Tibet 5: Gebete im Wind

Wer in den Bergen des Himalajas unterwegs ist, kommt am Tibetischen Buddhismus nicht vorbei. Die Spiritualität der Menschen entspringt hier mitten in der Natur. Sie ist in jeden Pass, in jeden Fluss, in jedes Tal eingeschrieben. Die Menschen, die in der Höhe leben, wissen, dass sie nur verbunden mit der Natur überleben können. Die chinesische Regierung hat in den 60ger Jahren versucht die kommunistische Agrarwirtschaft auf Tibet zu übertragen – Tausende von Menschen sind in dieser Zeit verhungert… Wer nicht mit der Natur lebt, wird hier von ihr vernichtet.

Bei der Umrundung des Kailash habe ich den Wind als meinen Gegner erlebt. Er war eiskalt, er saß mir ständig im Nacken oder blies mir ins Gesicht. Er zerrte unentwegt an meinen Nerven. Ich bestaune, wie sehr die einheimischen Pilger davon ausgehen, dass die Natur auf ihrer Seite ist. Sie erleben den Wind – wie jedes andere Naturelement auch – als Verkörperung des Göttlichen.

Da der Schutz des Lebens unter diesen extremen Bedingungen viel Aufmerksamkeit braucht, übergeben sie einen großen Teil der spirituellen Praxis einfach einem der fünf Elemente (Erde, Feuer, Luft, Wasser, Raum)… Mantras werden in Steine gehauen und an heiligen Plätzen niedergelegt. Wasserräder werden an einem Flusslauf angebracht sind und treiben Gebetsmühen an. Auf jedem Pass werden dem Wind Gebetsfahnen anvertraut – die verschiedenen Farben symbolisieren dabei die einzelnen Elemente und die unterschiedlichen Kräfte…

 

 

Ich lebe in Deutschland – in einem Land der Mitte. Ich liebe den Rhythmuswechsel der Jahreszeiten. Nach den Extremen der Berge habe ich die Milde unseres Windes zu würdigen gelernt. Im Vergleich zu ihnen Land ist jedes Element gnädig – vor allem, weil es sich unaufhörlich mit anderen abwechselt.

Inzwischen hängt eine Tibetische Gebetfahne auf unsere Terrasse… Das Licht der Sommersonne spielt mit den Gebeten… Der Sommerwind tanzt mit jedem Element…Manchmal kommt der Regen vorbei… Sie erinnert mich an die unvorstellbar hohen Berge, auf denen Tibet erst beginnt… Sie lehrt mich Einfachheit und Dankbarkeit…

Tibet 4: Immer nur eins – und das ganz

Unter Akklimatisierung hatte ich mir vorgestellt, dass – nach einer Zeit der Anpassung – oben alles so läuft wie unten. Doch weit gefehlt… In der Höhe nimmt nicht nur der Sauerstoff sondern auch der Luftdruck kontinuierlich ab. Und das hat weit reichende Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Körpers. Es gibt in den Bergen nur bis 4200 Höhenmeter menschliche Siedlungen. Alles, was darüber liegt, können wir zwar eine Weile lang aushalten, es gewährleistet uns aber keinen regenerativen Lebensraum. Hier bleiben wir Fremdlinge.

 

 

Ihn über 4000 m Höhe ist die Fürsorge für die eigenen körperlichen Belange jeden Moment wichtig. Ich lerne, unmittelbar auf meine Bedürfnisse zu antworten. Jedes Zaudern hat Konsequenzen. Unter den Belastungen der Höhe ist das Immunsystem bis zum Äußersten gefordert. Rücksichtslosigkeit gegenüber dem eigenen Körper bezahlt man in dieser Höhe sofort – mit Kopfschmerzen, Schwäche, Erkältung, Fieber.

Die Reduktion von Sauerstoff führt notwendigerweise zur Vereinfachung des Lebens. Das beginnt für mich als erstes einmal damit, dass ich nicht mehr gleichzeitig Denken, Fühlen und Handeln kann. Ich muss wählen. Es geht immer nur eins – und das braucht mich ganz.

Bisher war mein Körpergefühl für mich selbstverständlich. Die Erfahrung der Höhe, des reduzierten Sauerstoffs, der Anstrengung und der notwendigen Sorge für mich selbst, hat mir gezeigt: Was wir als Selbstverständlichkeit erleben ist das energetische Zusammenspiel von unserem Körper mit seiner Umwelt.

Es gibt keine Unabhängigkeit.
Alles ist mit allem verbunden.

Tibet 3: Die Entdeckung der Langsamkeit

Unsere Wanderung beginnt in den Bergen von Nepal auf 2200 Höhenmetern. Von hier aus steigen wir begauf, bis wir schließlich – 8 Tage später – bei 4100 m die Grenze nach Tibet überschreiten.

Wulf ist vor allem damit beschäftigt, uns zu entschleunigen. Wir stellen fest: wir haben keine Ahnung vom langsamen Gehen. Wir kommen mit einem Konzept von ‚Sport in die Bergen‘. Wir lassen uns von unseren eigenen Ansprüchen die Berge hinauf und hinunter jagen. Wir wissen nichts von der Rhythmuskraft unseres Körpers und überfordern ihn damit ständig.

Schließlich zieht Wulf an die Spitze unserer kleinen Karawane und gestattet niemandem ihn zu überholen. Uns wird die Langsamkeit zugemutet.

Durch die Entschleunigung erlebe ich, wie viel Raum und Richtung in einem einzigen Augenblick möglich ist. Je langsamer wir werden, umso vollständiger können wir jeden Moment erleben: Einen Schritt ganz gehen… Sich alle Zeit der Welt zu nehmen, um auf einem Stein Platz zu nehmen… Sich im Augenblick der Begegnung mit einem Menschen ganz entspannen können…

Ich finde mein Glück in der Vollständigkeit des Augenblicks.

Tibet 2: Wir brauchen einen Fährmann

Trotz umfassender Vorbereitung war dann natürlich alles anders als ich es befürchtet habe. Das Leben findet nun mal außerhalb unserer Vorstellung statt… So waren meine Ängste vor allem im Vorfeld real – sie dienten der gründlichen Vorbereitung.

Dennoch war meine Reise nach Tibet eine Reise ins Neuland. Dazu hatte ich mir Wulf als Fährmann gewählt.

Auf der Grundlage meinen eigenen Erfahrungen, wäre meine Pilgerreise wohl lebensgefährlich verlaufen… Ich kannte die Höhenkrankheit nicht… Ich hätte meine Erfahrungen aus dem Flussland (Düsseldorf liegt 50 Höhenmeter über NN) auf die Welt in der Höhe übertragen… Ich hätte mich mit meinen Ansprüchen in Lebensgefahr gebracht… Ich hätte dort geruht und geschlafen, wo es existenziell notwendig ist, in Bewegung zu bleiben… Ich hätte meinen Körper maßlos überfordert, weil wir Flussländer den gesunden Rhythmuswechsel des Körpers nicht mehr kennen…

Wir machen im Neuland immer Fehler: Wir übertragen altbekannte Vorstellungen auf ungewohnte Situation. Da unsere Sichtweisen wie Wahrnehmungsfilter wirken – können wir nicht mehr erkennen, dass das Leben uns gerade neue Möglichkeiten schenkt. Stattdessen reproduzieren wir mitten im Neuen das Alte – und machen damit wieder einmal die gleichen Erfahrungen.

Wulf konnte ich vorbehaltlos vertrauen, weil ich wusste, dass er um seine eigenen Grenzen weiß. Er hat mit Dawa von Asian Trekking für einen zusätzlichen Fährmann gesorgt. Wulf und Dawa waren eine bemerkenswerte Kombination: Der eine kannte sich aus mit den Eigenarten der Europäer, der andere war vertraut mit den Eigenarten der Nepalesen, Tibeter und Chinesen. Wir haben ihnen von Tag zu Tag mehr vertraut, weil jeder von ihnen seine Verantwortung ganz genommen und geteilt haben.

Im Neuland brauchen wir immer einen Fährmann – jemand, der sich dort auskennt, wo wir noch nicht waren. Nur wer sich führen lassen kann, kann etwas Neues erleben.

Tibet 1: Das Geschenk der Angst

4 Wochen im Himalaja: Der Termin stand fest, die Flüge waren lange im Voraus gebucht und in regelmäßigen Abständen bekam ich von Wulf alle wichtigen Informationen für unsere Pilgerreise.

Für mich begann die Reise bereits 3 Monate vor dem Abflug – nämlich mit meinen Sorgen, Ängsten und Unsicherheiten. Wie kann man sich auf das Unbekannte vorbereiten? Was nimmt man mit, wenn man nicht weiß wo man hingeht? Was brauchen wir, um uns im Unvorhersehbaren vertrauen zu können?

Ich wusste, dass ich in eine mir fremde Welt ziehe. Der Umgang mit einer anderen Kultur war mir durch andere Reisen vertraut, aber ich hatte keine Erfahrungen vom Leben und Bewegen in der Höhe. Ich bin völlig neuen Ängsten begegnet… Der Angst zu vertrocknen… der Angst vor der Kälte… die Angst zu ersticken…

Ich habe mit Menschen gesprochen, die bereits vor mir dort oben waren. Viele von ihnen haben mir etwas aus ihrem Erfahrungsschatz mit auf den Weg gegeben: einen Schlafsack, eine Daunenjacke, genau die richtige Fußcreme… Eine Erkenntnis, eine Warnung, eine Empfehlung, eine Inspiration, die sie getragen hat…

Bereits 4 Wochen vor der Abreise war ich umgeben von Bergen – nämlich den Bergen der Dinge, die ich mitnehmen wollte. Sie bildeten Vorbereitungs-Berge in meinem Zimmer, die immer wieder überprüft, ergänzt und umgeschichtet wurden. Am Ende konnte ich ein Drittel davon wirklich mitnehmen – ich musste mich entscheiden und wählen.

Das Geschenk der Angst ist für mich eine gute Vorbereitung. Es gibt keine Sicherheit, die wir einpacken können. Doch durch den respektvollen Umgang mit meiner Angst konnte ich schließlich ganz vertrauen – mir selbst und denen, die führen.

Am Ende hatte ich alles, was ich brauchte… Und innerhalb unserer kleinen Gruppe von Reisenden hatte jeder etwas dabei, was nicht er – sondern ein anderer brauchte.