Für meinen Großvater

Eine Freundin erzählt mir, dass sie am Wochenende bei ihren Eltern war. Da sie gerade Das flüssige Ich las, lag unser Buch im Wohnzimmer, und ihr Vater nahm es immer wieder mal in die Hand (76 Jahre, ehemaliger Schlosser). Beim Abschied fragte er sie dann:

Kannst du mir das Buch vielleicht hierlassen? Ich stolper darin immer wieder über Sätze, die ich nicht kenne. Sie bringen mich auf neue Gedanken.

Mein Großvater hatte auch diesen Hunger nach frischen, unverbrauchten Gedanken. Bei ihm bin ich regelmäßig über Sätze gestolpert, die ich noch nicht kannte… Er liebte klassische Musik, naturwissenschaftliche Gesetzmässigkeiten, mathematische Rätsel und philosophische Fragestellungen. Er konnte stundenlang in seinem Sessel sitzen, Beethoven oder Grieg hören, und dabei eine einzige Frage erforschen.

Doch im sozialen Miteinander war er ein sperriger Mensch – fast misantropisch. Es war nicht einfach, ihm zu zeigen, dass man ihn liebte… Berührungen, Körperkontakt und Umarmungen waren ihm unangenehm, und die Nähe von Menschen schien ihm manchmal fast körperlich weh zu tun. Er war einer der ersten, die Hitlers ‚Mein Kampf‘ gelesen haben. Danach wußte er, dass dieser Mann Vernichtung und Tod über Europa bringt. Er war ein überzeugter Pazifist – durch seine eigene Kindheit jedoch so gehandicapt, dass er sich darin nie mit anderen verbinden konnte.

Glücklich habe ich ihn vor allem auf den Spaziergängen erlebt, die wir zusammen unternommen haben. Vieles, was ich heute über Pflanzen und Tiere weiß, habe ich von ihm gelernt. Mit all den Seiten von mir, die sich in der Welt und unter Menschen fremd gefühlt haben, fand ich bei ihm ein Zuhause.

Er ließ mich erleben, was wir alles aus eigener Kraft schaffen können. Mich begeisterte allerdings schon als Kind viel mehr, was wir gemeinsam bewirken können. In der Entstehungsgeschichte zu unserem Buch habe ich mit Birgit-Rita Reifferscheidt nun sehr praktisch erlebt, wie viel ungeahnte Qualität und Wirkkraft durch ein kreatives Wir ermöglich wird.

Vielleicht ist ja nun endlich die Zeit der Einzelgänger und Einzelkämperinnen in unsere Familie vorbei… Es ist ein unglaubliches Gefühl, durch das Gestalten der eigenen Zukunft seine Großeltern und Eltern ehren zu können. Tief in der eigenen Geschichte verwurzelt zu sein – und doch über sie hinauszuwachsen.

Danke, dass ihr vorgegangen seid…

Familienkonferenz im Netz

Heute morgen fand ich bei der Zeit den Artikel Rafi ist online. Darin beschreibt ein Vater (und Journalist), wie seine gesamte Familie gelernt hat, mit dem Internet zu leben. Beim Lesen ging mir das Herz auf – und ich sass die ganze Zeit schmunzelnd vor dem Bildschirm.

Es ist erstaunlich, mit wie viel Spaß der Wechsel ins Informationszeitalter gelingt, wenn Eltern vorgehen und mitgehen.

Wenn Großväter sprechen

Walter Holzer ist über 80 und erzählt in seinem Blog immer mal wieder aus seinen Erfahrungen im 2. Weltkrieg. Ich sitze jedes Mal gebannt vor dem Bildschirm… Seine Worte berühren mich tief.

Mein Großvater wurde 1911 geboren. Er war – Gott sei Dank – nie ein Soldat. Mein Großvater hat immer erzählt: Wenn er eingezogen worden wäre und Menschen hätte töten müssen, hätte er sich umgebracht. Doch das Leben war gnädig mit ihm: seine Fähigkeiten wurden in der Waffen-Industrie gebraucht.

Er war der uneheliche Sohn eines Gutsherren-Sohns und einer Magd. Er war ein Schande, ein Makel und wuchs wie ein Stück Vieh bei den Schweinen auf. Er war ein Casper Hauser. Aus ihm ist ein stiller Pazifist geworden. Das Leben mit den Menschen hat er nie gelernt und nie geschätzt. Er blieb menschenscheu. Erst seine Frau hat ihm den Weg in die Welt gezeigt. Erst mit seinen Urenkeln hat er das Lieben gelernt.

Am Ende seines Lebens verlor er erst seine Sprache und dann sein Gedächtnis. Er hat mir manchmal davon erzählt, wie er nachts von alten Erinnerungen heimgesucht wurde, obwohl er sich geschworen hatte, sie zu vergessen. Am Ende musste er die Ängste und die Verlorenheit seiner Kindheit noch einmal durchleiden – weil er sie zu Lebzeiten nicht teilen konnte.

In dir Walter erlebe ich einen Großvater, der sich erinnern will.
Ich liebe alle deine Gedanken, weil sie immer aus Geschichte gewoben sind… Danke dass du teilst, was dich bewegt.

Deine Worte segnen das Leben meines sprachlosen Großvaters und geben ihm einen Sinn.

Wenn wir der Liebe folgen, ist es einfach.

Eine Mutter und ihr Sohn kommen zu einem Coaching-Gespräch…. Nach dem Tod ihres Mannes hat die Mutter (70) Gespräche mit einer weisen Frau gesucht. Dazu hat sie eine 83-jährige Therapeutin gefunden, die um die Kostbarkeit der Zeit weiß und die ihr die Gespräche mit ihrem Sohn (45) empfohlen hat…

Jetzt sitzen sie vor uns und erzählen: Am Anfang litten vor allem die Anderen unter den ungeklärten Familien-Beziehungen. Die Ehefrau, die immer wieder das austragen muß, was der Mann mit seiner Mutter nicht klären konnte. Die Kinder, die keine anderen Großeltern mehr haben und so stolz sind auf ihre Oma. Sie hätten gerne so viel mehr von ihr – halten sich aber aus Schuld gegenüber ihren Eltern zurück… Und da sind seine Schwestern, mit denen er die Eifersucht teilt. Keiner von ihnen fand bisher den Mut, sich den anderen in seinen Gefühlen ganz zuzumuten…

Ich staune: Zwischen Mutter und Sohn ist die Liebe zu jedem Augenblick größer als die Scham… Der Weg führt über die, die wir lieben. Manche Schritte gehen wir eher aus Liebe zu ihnen, als aus Sorge um uns…

Es sind vor allem Angst und Scham, die uns trennen. Doch für den, der der Liebe folgt ist der Weg einfach: Liebe ist immer der effektivste Weg der Veränderung.

Es gibt Gespräche – wie diese, die mich zutiefst beglücken, die mir die Freude am Brückenbauen in der eigenen Familie schenken.

Die Zeit läuft – so oder so. Nutzen wir doch einfach die Chancen…

Vom Segen der Geschwister

Wir sind zu Besuch bei einer befreundeten Familie. Wir kennen sie seit vielen Jahren, wir haben miterlebt, wie sie in dieser Zeit vier Kinder großgezogen haben – mit schweren Ehekrisen, Essstörungen, Schulkonflikte, rebellische Positionskämpfe und Konkurrenz zwischen Geschwister. Manchmal waren wir zur rechten Zeit am rechten Platz und haben ein Sorgenstück mitgetragen, Mut gemacht, gemeinsam Wege und Lösungen gesucht…

Heute kochen wir mit der ganzen Familie. Aus den Kindern sind junge Erwachsene geworden. Ich erlebe eine große lebendige Familie: jeder bringt seinen Teil mit ein – an Wissen, an Einsichten, an Witz + Humor. Irgendwie scheinen alle inzwischen die Gegenwart der anderen zu genießen… Wir schneiden gemeinsam Gemüse am großen Tisch, der Sohn öffnet und serviert den Wein… Überhaupt staune ich darüber, wie diese Familie gelernt hat, die Eigenarten der Anderen zu nehmen, zu mögen, damit humorvoll zu leben…

Nach dem Essen tauchen wir ein in ein intensives Gespräch am runden Familien-Tisch. Jeder bringt etwas ein, für das er sich leidenschaftlich engagiert. Ich erlebe Toleranz und Streitfähigkeit, Zuhören und Standpunkt, die Freude an der Befruchtung durch Andere, das Infragestellen der eigenen Sichtweise. An diesem Familien-Tisch werden Fragen gestellt, die wirklich bewegen… Ich spüre, wie jeder mit seiner Eigenart einen Platz und Gehör gefunden hat. Jeder kann mit seiner Sichtweise ganz da sein, weil er eingebunden ist in ein Netz von Andersartigkeit.

Als wir nach Hause fahren bin ich selig und heiter beschwingt… Mir fällt ein, wie viele Einzelkinder es in dieser Generation gibt… und was sie alle nicht im Sozialkontakt miteinander lernen können… Ihnen fehlt eine Kontaktfläche in die Gemeinschaft… Sie halten sich für etwas Besonderes, sind jedoch im Kontakt besonders gehandicapt… Sie glauben, sie könnten und müssten alles allein schaffen… Für sie ist der Weg zum Anderen auf Augenhöhe noch zu lernen…

Ich danke meinen Geschwistern – für ihr Da-Sein und ihr So-Sein:
Mein Bruder Joachim, der so früh nach mir kam und viel der emotionalen Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Durch dich habe ich Eigenständigkeit und Freiheit gelernt.
Meine Schwester Astrid, die mit ihrer impulsiven emotionalen Ausdruckskraft dafür gesorgt hat, dass ich auf meinem Fluchtweg ins Mentale die Gefühle nicht vergessen habe.
Meine jüngste Schwester Andrea, die mit ihrer Kombination von Lebendigkeit und Feinheit bewirkt hat, dass sich in mir Kraft und Zartheit verbinden.

Danke für jeden Streit mit euch. Danke für jeden Zorn, für jede erlittene Ungerechtigkeit. Danke für jeden Kampf, den Ihr an meiner Statt auf dem Schulhof ausgestanden habt. Danke, dass ich nie alleine war – auch wenn ich mich manchmal unter euch einsam gefühlt habe… Danke, dass ich mit euch viele emotionalen Kompetenzen lernen konnte, die mir heute in Gemeinschaften Flügel verleihen.

Danke für eurer Anderssein.