Während meines Soziologie-Studiums hatte ich meine liebe Mühe mit Karl Marx und seinem Kapital. Die Sprache war sperrig und unsinnlich, alle Dozenten waren auf ihre Weise Ideologen – entweder in die eine oder die andere Richtung. Ich spürte, dass Marx mit seinem Verständnis von Arbeit und Geld eine radikal neue Sichtweise in die Welt brachte, aber es fiel mir schwer, seine Vision einer neuen Gesellschaft wirklich zu begreifen.
Nun habe ich einen guten Freund, Doktor der Theologie, Lehrer – und leidenschaftlicher Marx-Leser. Seit einigen Jahren versucht er mir eine Brücke zu den Schriften von Karl Marx zu legen. Als ich ihn und seine Familie das letzte Mal besuchte, gab mir seine Frau (begeisterte Germanistin) zum Abschied diese Biografie über Jenny Marx in die Hand: ‚Manchmal müssen wir die Zeit verstehen, in der jemand gelebt hat… Und wie er geliebt hat‘. Wie weise…
Dieses Buch hat mich bewegt und mitgerissen. Als ich einmal mit dem Lesen angefangen hatte, konnte es nicht mehr aus der Hand legen. Ulrich Teusch beschreibt sehr fühlbar den bitteren Alltag der Familie Marx, und die Liebe zwischen zwei außergewöhnlichen Menschen. Aber eben auch die politischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert, die Geschichte der sozialistischen Bewegung und dem Kampf um die gesellschaftliche Veränderung der Arbeit.
Jenny war eine Baronesse von Westphalen (1814-1881), Karl Marx war in jüdischer Bürgersohn. Beide kamen aus gebildeten Familien, ihre Väter waren gute Freunde. Beide haben ihre Kinder (Jungen wie Mädchen) gut ausgebildet und gefördert. Dass mit der Hochzeit dieses Querdenkers eine entbehrungsreiche Zeit auf sie zukommen würde, hat Jenny wohl geahnt. Dass sie beide bis zum Ende ihres Lebens sehr arm sein würden, hat sie damals Gott sei Dank nicht gewusst.
Das persönliche Schicksal dieser Familie ist hart und erschütternd. Als Karl und Jenny 1849 wegen ihrer sozialistischen Ideen aus Deutschland ausgewiesen wurden, begann für sie eine Odyssee: Erst nach Frankreich, bis man sie auch dort aus dem Land wies. Dann nach England, wo die Familie nur mit der Hilfe und Unterstützung von Friedrich Engels überlebte.
Sie hatten 7 Kinder, die sie sehr liebten. Der Tod von drei Kindern blieb für beide bis zum Ende ein schmerzlicher Verlust. Beide waren immer wieder schwer krank – was sicherlich nicht zuletzt den elenden Verhältnissen geschuldet war, in denen sie lebten. Karl starb kurze Zeit nach Jenny Tod. Ohne Jenny hätte Marx sicherlich niemals so produktiv sein können. Ohne sie wollte er wohl nicht mehr leben. Marx war ein genialer und leidenschaftlicher Denker, besonders lebenstauglich war er nicht. Ohne seine Frau und seinen Freund Friedrich Engels hätte er viele seiner Schriften sicherlich nicht schreiben und veröffentlichen können.
Über seine Frau habe ich endlich einen Zugang zu Karl Marx gefunden. ‚Ich bin kein Marxist‘, hat er einmal gesagt – leidenschaftlich und undogmatisch… Erst nach seinem Tod entfaltete sich die Sprengkraft seiner – oft umgedeuteten oder falsch verstandenen – Ideen.
Nach dem Buch habe ich mir noch einmal die ZDF-Dokumentation über ihn und seine Zeit angesehen. Sie ist sehr gut, zusammen mit dem Buch ist sie ausgezeichnet. Diese Kombination kann ich wirklich jedem empfehlen, der sich mit diesem Teil der deutschen Geschichte gerne einmal auseinandersetzen möchte.
Auch wenn Karl Marx in Deutschland bis heute nicht die Anerkennung erfährt, die ihm als großartiger Philosoph und Gesellschaftsökonom zustehen würde – seit 2013 gehören zumindest das Kommunistische Manifest und der 1. Band vom Kapital zum UNESCO-Weltkulturerbe.