Tibet 3: Die Entdeckung der Langsamkeit

Unsere Wanderung beginnt in den Bergen von Nepal auf 2200 Höhenmetern. Von hier aus steigen wir begauf, bis wir schließlich – 8 Tage später – bei 4100 m die Grenze nach Tibet überschreiten.

Wulf ist vor allem damit beschäftigt, uns zu entschleunigen. Wir stellen fest: wir haben keine Ahnung vom langsamen Gehen. Wir kommen mit einem Konzept von ‚Sport in die Bergen‘. Wir lassen uns von unseren eigenen Ansprüchen die Berge hinauf und hinunter jagen. Wir wissen nichts von der Rhythmuskraft unseres Körpers und überfordern ihn damit ständig.

Schließlich zieht Wulf an die Spitze unserer kleinen Karawane und gestattet niemandem ihn zu überholen. Uns wird die Langsamkeit zugemutet.

Durch die Entschleunigung erlebe ich, wie viel Raum und Richtung in einem einzigen Augenblick möglich ist. Je langsamer wir werden, umso vollständiger können wir jeden Moment erleben: Einen Schritt ganz gehen… Sich alle Zeit der Welt zu nehmen, um auf einem Stein Platz zu nehmen… Sich im Augenblick der Begegnung mit einem Menschen ganz entspannen können…

Ich finde mein Glück in der Vollständigkeit des Augenblicks.

Von der Intelligenz, einfach zu werden

Es gibt Aspekte, die in unserer Kultur zur Intelligenz gehören, aber in anderen Gesellschaften als Dummheit bezeichnet werden: Schnelligkeit zum Beispiel. Langsamkeit bedeutet bei den Bataro in Uganda: erst mal hinhören, abwägen, noch mal nachdenken, in sich gehen, dem anderen helfen, sein Gesicht zu wahren, wenn er sich irrt. Nur der Langsame ist hier wahrhaft intelligent und mitmenschlich.

Mein Neffe Julian hat ein so großes Interesse an der Welt und am Lernen, dass er bereits als Erstklässler zu den Besten der 2. Klasse gehört. Er ist einfach gut eingebunden in ein soziales Netz, neugierig und welthungrig… Der Vorschlag der Lehrerkonferenz, ihn eine Klasse überspringen zu lassen, hat bei seinen Eltern erst einmal Verunsicherung ausgelöst.

Nach 3 Wochen kommt Julian von der Schule und informiert seine Eltern: ‚Ich habe jetzt alles mit den Lehrern besprochen… weil ihr nicht wisst, wie ihr entscheiden sollt. Ich gehe im August in die 3. Klasse.’ Ich liebe meine Schwester und ihren Mann dafür, dass sie staunend der Wahl ihres Sohnes folgen.

Der Zen-Lehrer Richar Baker-Roshi hat einmal gesagt: ‚Der Intelligenzquotient ist für mich ein Maßstab für die Zeit, die jemand braucht, um wieder einfach und gewöhnlich zu werden.‘

Was für eine Weisheit des Einfachen.