Vom Segen der Geschwister

Wir sind zu Besuch bei einer befreundeten Familie. Wir kennen sie seit vielen Jahren, wir haben miterlebt, wie sie in dieser Zeit vier Kinder großgezogen haben – mit schweren Ehekrisen, Essstörungen, Schulkonflikte, rebellische Positionskämpfe und Konkurrenz zwischen Geschwister. Manchmal waren wir zur rechten Zeit am rechten Platz und haben ein Sorgenstück mitgetragen, Mut gemacht, gemeinsam Wege und Lösungen gesucht…

Heute kochen wir mit der ganzen Familie. Aus den Kindern sind junge Erwachsene geworden. Ich erlebe eine große lebendige Familie: jeder bringt seinen Teil mit ein – an Wissen, an Einsichten, an Witz + Humor. Irgendwie scheinen alle inzwischen die Gegenwart der anderen zu genießen… Wir schneiden gemeinsam Gemüse am großen Tisch, der Sohn öffnet und serviert den Wein… Überhaupt staune ich darüber, wie diese Familie gelernt hat, die Eigenarten der Anderen zu nehmen, zu mögen, damit humorvoll zu leben…

Nach dem Essen tauchen wir ein in ein intensives Gespräch am runden Familien-Tisch. Jeder bringt etwas ein, für das er sich leidenschaftlich engagiert. Ich erlebe Toleranz und Streitfähigkeit, Zuhören und Standpunkt, die Freude an der Befruchtung durch Andere, das Infragestellen der eigenen Sichtweise. An diesem Familien-Tisch werden Fragen gestellt, die wirklich bewegen… Ich spüre, wie jeder mit seiner Eigenart einen Platz und Gehör gefunden hat. Jeder kann mit seiner Sichtweise ganz da sein, weil er eingebunden ist in ein Netz von Andersartigkeit.

Als wir nach Hause fahren bin ich selig und heiter beschwingt… Mir fällt ein, wie viele Einzelkinder es in dieser Generation gibt… und was sie alle nicht im Sozialkontakt miteinander lernen können… Ihnen fehlt eine Kontaktfläche in die Gemeinschaft… Sie halten sich für etwas Besonderes, sind jedoch im Kontakt besonders gehandicapt… Sie glauben, sie könnten und müssten alles allein schaffen… Für sie ist der Weg zum Anderen auf Augenhöhe noch zu lernen…

Ich danke meinen Geschwistern – für ihr Da-Sein und ihr So-Sein:
Mein Bruder Joachim, der so früh nach mir kam und viel der emotionalen Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Durch dich habe ich Eigenständigkeit und Freiheit gelernt.
Meine Schwester Astrid, die mit ihrer impulsiven emotionalen Ausdruckskraft dafür gesorgt hat, dass ich auf meinem Fluchtweg ins Mentale die Gefühle nicht vergessen habe.
Meine jüngste Schwester Andrea, die mit ihrer Kombination von Lebendigkeit und Feinheit bewirkt hat, dass sich in mir Kraft und Zartheit verbinden.

Danke für jeden Streit mit euch. Danke für jeden Zorn, für jede erlittene Ungerechtigkeit. Danke für jeden Kampf, den Ihr an meiner Statt auf dem Schulhof ausgestanden habt. Danke, dass ich nie alleine war – auch wenn ich mich manchmal unter euch einsam gefühlt habe… Danke, dass ich mit euch viele emotionalen Kompetenzen lernen konnte, die mir heute in Gemeinschaften Flügel verleihen.

Danke für eurer Anderssein.

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