Der sechste Sinn gehört dem ganzen Körper

Jeder kennt die fünf Sinnesorgane – und natürlich auch den siebten Sinn. Der sechste Sinn ist so selbstverständlich, dass wir ihn in der Regel vergessen und kaum bedenken – unser Körpersinn. Zahlreiche Rezeptoren an Muskeln, Sehnen und Knochen vermitteln uns ein Gefühl für unseren Körper und für unsere Bewegungen im Raum – jeden Augenblick und ohne, das wir es bewusst wahrnehmen.

Bei Zeit online habe ich einen Artikel gefunden, der unseren Körpersinn wunderbar anschaulich beschreibt. Es lohnt sich ihn zu lesen. Mich hat er – mitten in meinen alltäglichen Bewegungen – zum Staunen gebracht.

Der verlorene Geschmack

Ich habe mich schon oft gefragt, wo eigentlich der Geschmack der Tomaten geblieben ist… Bei ZEIT online entdeckte ich die Video-Serie Dr. Max erklärt die Welt. Dort werden interessante wissenschaftlicher Erkenntnisse alltagstauglich erklärt.

https://youtu.be/xsbkUm81eZA

In seinem letzten Video erläutert Dr. Max, dass Tomaten ihren Geschmack verlieren, weil sie in einer Umgebung aufwachsen, die sie verwöhnt und unterfordert. Sie wurzeln nicht mehr in der Erde, sondern in Steinwolle. Sie werden regelmäßig mit Nährlösungen versorgt. Ihnen geht es einfach zu gut. Sie müssen keinerlei Stress mehr durchleben – und verlieren damit ihren Geschmack und ihre Originalität.

Uns Menschen geht es wie den Tomaten. Erst durch die Reibung mit den Hindernissen und Engpässen des Lebens wachsen Werte und unser individueller Geschmack. Entwicklung ohne Wachstumsstress fördert geschmacklose Beliebigkeit – aber keine Reife. Jemandem die beste Lösung zu präsentieren – statt ihn darin zu unterstützen, dass er sie sich erarbeitet kann – scheint mir ein folgenschwerer Geschmackszerstörer zu sein…

Was für eine Herausforderung an die Pädagogik und die Führung…

Holzklotz statt Mitgefühl

Gestern ging es bei Aktenzeichen XY um die Jugendlichen, die in Oldenburg einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke geworfen haben. Während des Beitrages habe ich mich immer wieder gefragt: Was mag wohl jetzt in ihnen vorgehen – wo sie wissen, dass eine ganze Nation nach ihnen sucht? Wem können sie sich wohl anvertrauen? Und was wird in ihrem Leben aus diesen Schuldgefühlen wachsen?

Heute lese ich einen Artikel zu diesem Vorfall im Zünder-Blog der Zeit. Darin fordert Carsten Lißmann seine Leser auf, sich in die Situation des Jugendlichen zu versetzen, der den Holzklotz fallen ließ – und der inzwischen weiß, dass seine Gedankenlosigkeit für eine junge Mutter tödlich war und für ihre Familie traumatisch ist. Mir spricht er dabei aus der Seele.

Dann lese ich die Kommentare zu seinem Artikel – und ich bin zutiefst schockiert. Kaum jemand scheint in seinen Artikel eine Befruchtung durch eine neue Sichtweise zu sehen und ihn als eine Inspiration zu verstehen. Stattdessen werden dem Autor Hirnlosigkeit, Narzissmus und Verharmlosung vorgeworfen.

In der Opfer-Täter-Debatte sind wir in Deutschland also immer noch nicht weiter gekommen. Mitgefühl scheint in unserer Gesellschaft nach wie vor gefährlich zu sein.

Vielleicht, weil wir unsere Sympathien für den Täter fürchten – da wir in unserer Geschichte so schlechte Erfahrungen mit unserem eigenen Sympathisantentum gemacht haben… So als würden wir unsere Werte und unsere Konsequenz verlieren, wenn wir die Geschichte mal von einer anderen Seite sehen. Als würde unser Mitgefühl dem Täter seine Verantwortung abnehmen. Als wäre Mitgefühl per se eine Strategie der Verharmlosung.

Mitgefühl setzt immer voraus, dass wir unsere eigenen Schatten kennen und uns in den Anderen hineinversetzen können – ganz gleich ob er Opfer oder Täter ist. Im Fall der sogenannten Holzklotz-Attacke würde das bedeuten, ein Gespür für unsere eigene Gedankenlosigkeit zu bekommen und uns an all die Mal zu erinnern, wo wir erst nach vielen leidvolle Erfahrungen (die Gott sei Dank nicht immer tödlich verlaufen) bereit waren, zu lernen und uns zu verändern…

Vielleicht würde der eine oder andere dann feststellen, dass ihm in seinen jungen Jahren – unter bestimmten Bedingungen – etwas Ähnliches hätte passieren können… Und unser Mitgefühl könnte uns verändern.

Krankheit als Weg in die Verkörperung

‚Ideas worth spreading’. Das ist das Leitmotiv von TED. Dieses Video gehört auf jeden Fall zu einer der Kostbarkeiten der TED-Konferenzen. Dr. Jill Bolte Taylor ist Gehirnforscherin und spricht über ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Schlaganfall, der wesentliche Funktionen ihrer linken Gehirnhälfte außer Kraft gesetzt hat. Plötzlich erlebt sie ihr eigenes Gehirn von innen… Und aus wissenschaftlichen Theorien werden auf einmal gefühlte Erfahrungen.

Beim Sehen des Videos sitze ich wie gebannt vor dem Bildschirm. Ich weine mit ihr. Ich staune mit ihr. Ich lerne mich selber kennen.
Ihre Erfahrungen sind es wirklich wert, geteilt zu werden.

Ich habe noch nie so anschaulich die Funktionsweise unseres Gehirns beschrieben bekommen: Wie Unmittelbarkeit und Logik zusammenwirken… Was passiert, wenn wir vollkommen von der Gegenwart eingefangen werden und der Tanz zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht mehr funktioniert… Normalerweise arbeiten beide Gehirnhälften so selbstverständlich miteinander, dass wir die Komposition der Unterschiede nicht bewusst erleben können.

Die massive Störung des Selbstverständlichen durch einen Schlaganfall schenkte Dr. Jill Bolte Taylor eine fühlbare Erfahrung ihres eigenen Gehirns. So wird Wissenschaft zur verkörperten Weisheit – fühlbar und emotional verständlich. Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben, dass man als Hardcover oder als Download kaufen kann.

Was für ein Segen in unseren Krankheiten liegt…
Sie fördern Dankbarkeit, Demut und Staunen.

Bei Dr. Jill Bolte Taylor hat ein Schlaganfall zur leibhaftigen Verkörperung ihres Wissen geführt. Wie haben Krankheiten Sie verändert?

Medizin und die Logik der Gefühle

Ich habe gerade herausgefunden, dass es das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. (APS) bereits seit 2005 gibt. Ich war total begeistert, dass sich in unserem Gesundheitssystem endlich etwas in die richtige Richtung bewegt. Doch schon heute – zwei Tage nach der Meldung – spüre ich, dass die Information in der Öffentlichkeit schon wieder versickert ist. Selbst im Netz hat keiner der vielen Gesundheitsblogs die Nachricht aufgegriffen…

Die Erkenntnis, dass auch Ärzte Fehler machen, löst wohl in jedem von uns existenzielle Ängste aus. In der Medizin geht es schließlich um unseren Körper. So blenden wir die schlechten Nachrichten lieber aus und halten uns an einem Strohhalm der Hoffnung fest – weil wir den Ärzten vertrauen müssen, wenn es um unser Leben geht.

Als mein Vater vor 2 Jahren seine Herz-Operation hatte, habe ich am eigenen Leib gespürt, wie groß meine Misstrauen gegenüber Ärzten und Krankenhäusern ist. Ich habe erlebt, dass niemand im Rahmen der OP-Vorbereitung auf die Angst eingegangen ist, die mein Vater, mein Mutter, ich und meine Geschwister hatten. Es gab – und das auch erst nach hartnäckigem Nachfragen – sachliche Informationen, aber keine Emotionen.

Durch den Verzicht auf Mitmenschlichkeit und die Ausgrenzung der Gefühle entsteht für mich die größte Fehlerquelle. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ohne Mitgefühl von Grund auf gesund werden können… Eine Medizin, die nicht um die Logik der Gefühle weiß, kann nur herzlos und fehlerhaft werden.

Ich danke Dr. Matthias Schrappe (Vorstand der APS), Dr. Jörg-Dietrich Hoppe (Vorsitzender der deutschen Ärztekammer) und Ulla Schmidt (Bundesministerin für Gesundheit), die sich für eine neue Fehlerkultur im deutschen Gesundheitssystem einsetzen.

Vielleicht folgen diesem Beispiel ja irgendwann – aller Ignoranz zum Trotz – die Verantwortlichen für Familie, Bildung, Finanzen und Umwelt.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf..