Im Nehmen geschieht Loslassen

Mit den inneren Löchern im Selbstwert ist das so eine Sache: Überall dort, wo ich in meinem Wesen nicht genommen worden bin, sind resistente Formen der Wertlosigkeit gewachsen. Ganz gleich was ich tue, um mich meines Wertes zu vergewissern – sie schmerzen und bezweifeln.

Ich habe erlebt, dass ich eine Flutwelle brauche, um die Tiefenschichten meines löchrigen Wertes endlich aufzulösen. Jetzt weiß ich, dass große existenzielle Erfahrungen dazu bestimmt sind, tiefe existenzielle Wunden zu erlösen. So hat sich die Welle für mich als unbeschreibliches Geschenk erwiesen. Sie hat mir gezeigt was möglich ist, wenn ich die Welle (in mir) dorthin nehme, wo meine Löcher sind: Größer kann das Zeichen – dass ich gemeint und wichtig bin – nicht sein… warum also nicht aufhören zu hadern? Sie hat mich gelehrt: Wer nicht nimmt, kann sich nicht verändern. Er kann mit den heilsamen Erfahrungen seine Kompensationen ausschmücken – über löchrigem Grund. Doch erst im NEHMEN geschieht Loslassen.

Leider haben wir das NEHMEN in Deutschland so gut wie gar nicht entwickelt. Wir wollen lieber Geben – und es vor allen Dinge alleine schaffen. NEHMEN liegt bei uns im Entwicklungsland der inneren 4. Welt. So sammeln wir Erfahrungen und leben Beziehungen, die wir nicht wirklich NEHMEN… und die uns im GRUND nicht verwandeln können.

Im Augenblick erlebe ich Deutschland als ein Land, das besessen ist von Effektivität und dennoch eine Verschwendung von Erfahrungen praktiziert, die mich zutiefst schockiert.

Wirkliche Effektivität entspringt aus der Kraft des NEHMENS.
Mögen alle, die der Welle begegnet sind, das Geschenk erkennnen, dass sie ihnen mitten ins Herz hinein zugemutet hat.

Das Geschenk der Zeit

Ich habe mich Ende Mai entschieden, einen Tag in der Woche in meinem Kalender zu markieren: hier gibt es keine Termine, keine Aufgaben. Dieser Tag ist ein Tag, den ich ganz der Zeit schenke. An diesem Tag geschieht nichts nach Plan. Ich folge meinen Impulsen und der Spur der Lust… Für eine Frau wie mich, die sich durch das unentwegte Funktionieren einen Platz in der Welt gesichert hat, ist das ein Quantum Sprung.

Warum diese Wahl? Ich weiss, dass bestimmte Einsichten, Ideen und Inspiration nur im Seinsfeld der Zeit auftauchen können. Ich spüre, dass die eigene intuitive Spur aus einem Raum von Nicht-Einmischung entspringt. Jedes Müssen und Sollen ist wie eine Gegen-Gift für diesen Aspekt meines Lebens. Ich glaube, die Sehnsucht wächst, mich pur zu leben – unabhängig von eingespielten und sicheren Abläufen.

Ich erlebe mit dieser Entscheidung ein unsagbares Glück in den Zwischen-Räumen der Zeit. Ich erfahre, dass manche Gaben nur die Zeit bringt. Freundschaft – zum Beispiel – gedeiht nur im Reich der geteilten Zeit. Beziehung und Partnerschaft gelingen organisch und leicht, wenn wir genügend Zeit mit einander verbringen.

Es braucht wohl eine erschütternde Erfahrung der Vergänglichkeit, um die Zeit, die wir mit einem Menschen teilen, wirklich würdigen und schätzen zu können. Erst dann bin ich im Augenblick angekommen.

Ich danke meinem Vater für diese Erfahrung der Vergänglichkeit – und für die Kraft seines Herzens.

Lebenskunst

Seltsam finde ich schon manchmal: Nur weil wir nicht ohne uns leben können, glauben wir schon selbstfähig zu sein, nur weil wir in Beziehung leben, glauben wir schon beziehungsfähig zu sein. Allein die Tatsache, dass wir in dieser Welt leben, macht uns doch nicht schon weltfähig, oder?

Eine ‚Fähigkeit‘ zu entwickeln, heisst ein wahrgenommenes Unvermögen auszugleichen, indem wir bewusster und vielfältiger in unseren Handlungsweisen werden. Voraussetzung dafür ist immer die Einsicht in das, was wir nicht wirklich ‚können‘, und – natürlich – die Bereitschaft zu lernen.