Der kleine Straßenfeger und das Engelshaar

In der Nacht war Schnee gefallen, und dann hatte es gefroren. Der kleine Straßenkehrer zog sich wärmer an als sonst: mit der roten Pudelmütze, dem langen blauen Wollschal und den dicken roten Handschuhen. Leider hatten die Motten Löcher hineingefressen; so schaute an beiden Händen der Zeigefinger heraus und an der linken Hand auch noch der kleine Finger.

Traurig betrachtete der kleine Straßenfeger die nackten Finger, während er zur Winterstraße ging. Heute brauchte er noch keine Schneeschaufel, aber wenn es weiter schneite, würde er mit dem Besen alleine nicht mehr auskommen. Während er so die Straße kehrte, sah er auf einmal etwas im Schnee glitzern, etwas Glänzendes. Es war ein langer glänzender Faden, den der kleine Straßenkehrer aufhob.

„Engelshaar“, sagte er andächtig, „das Haar von einem Engel!“ Und er wickelte das schimmernde Haar um seinen linken Zeigefinger, der am meisten fror. Das Engelshaar sah wunderhübsch aus – und es wärmte! Nicht nur der Zeigefinger wurde warm, sondern die ganze linke Hand.

„Guten Morgen, kleiner Straßenkehrer“, rief Fräulein Wunderlich, vor deren Garten er das Engelshaar gefunden hatte. Sie war gerade zu ihrem Vogelhäuschen unterwegs, um den Meisen und Spatzen Futter zu bringen. „Was hast du denn da hübsches am Finger?“, fragte sie. „Engelshaar“, sagte der kleine Straßenkehrer stolz. „Jetzt macht es mir überhaupt nichts mehr aus, dass meine Handschuhe Löcher haben.“

Fräulein Wunderlich lächelte ihm freundlich zu. Dann ging sie ins Haus zurück, holte rote Wolle und fünf Stricknadeln aus der Schublade und fing an, dem kleinen Straßenkehrer neue Handschuhe zu stricken. Sicher hat das der Engel so gemeint, dachte sie, als er sein Haar gerade vor meinen Garten legte.

Inzwischen kehrte der kleine Straßenkehrer weiter die Winterstraße. Ab und zu blieb er stehen und betrachtete glücklich seinen linken Zeigefinger. Da kam die alte Zeitungsfrau vorbei. Sie trug ihre Hände in die Schürze gewickelt, weil sie ihre Handschuhe verloren hatte.

„Frierst du?“ fragte sie der kleine Straßenkehrer. Die alte Zeitungsfrau nickte. Der kleine Straßenkehrer zögerte einen Augenblick, dann löste er das Engelshaar von seinem linken Zeigefinger und gab es der Zeitungsfrau. „Du musst es um deine Hand wickeln“, sagte er, „dann frierst du nicht mehr.“

Und merkwürdig! Nicht nur die Hände der alten Zeitungsfrau wurden warm – auch die des kleinen Straßenkehrers blieben es, ja, sie wurden noch wärmer, als sie gewesen waren. (Eva Marder)

Diese Geschichte kam heute als ein Weihnachtsgruß zu mir… Geben und Nehmen sind einander so unsagbar nah.  Danke Elvira + Michael..

Weihnachten 2.0

Ich diesem Jahr habe ich oft gedacht, wie dankbar ich dafür bin, in diese Zeit hinein geboren zu sein. Solange ich denken kann, hat mich fasziniert, auf welche Weise Menschen sich miteinander verbinden. In den letzten 10 Jahren konnte ich hautnah miterleben, wie sich unsere Beziehungsfähigkeit und unsere Kommunikation durch die Entwicklung neuer Technologien verändert haben. Ich bin Teil einer neuen gemeinschaftlichen Intelligenz geworden – und ich staune jeden Tag.

Wenn Jesus im 21. Jahrhundert geboren wäre, würde der Anfang der Weihnachtsgeschichte wohl so aussehen:

Christmas 2012 - THE DIGITAL STORY OF NATIVITY - (Christmas 2.0)

Geschenke aus Schuld

Die Tageszeitung enthüllt: Jedes 4. Weihnachtsgeschenk wird in diesem Jahr über Schulden finanziert. Beim Schlendern über den Weihnachtsmarkt stelle ich fest, dass – direkt neben dem Glühweinstand – eine Bank schamlose Sofortkredite anbietet. Im kollektiven Wettlauf um den schönen Schein, auf der Flucht vor Wertlosigkeit, Scham und Schuld, boomt das Weihnachtsgeschäft.

Aus Angst unser Gesicht zu verlieren, verschenken wir einfach, was wir nicht haben und was uns nicht gehört, verschulden wir uns – und die Schuldgefühle wachsen. Ich bin fassungslos. Wir verschenken tatsächlich unsere Schuld zum Fest der Liebe, statt uns auf die Gesten der Liebe zu besinnen. Irgendwie haben wir den Zauber des Geben-und-Nehmens vergessen. So als gäbe es Liebe nur noch zum Schnäppchenpreis.

Was wäre, wenn Weihnachten wieder ein Fest der Dankbarkeit würde? Wenn wir mit individuellen und kreativen Zeichen das Geschenk würdigen würden, dass ein anderer Mensch in unserem Leben ist? Wenn wir in stiller Freude oder mit großem Jubel einander einfach mitteilen, wo wir uns gegenseitig im Grunde befruchtet haben…?

Die Liebe dürfte endlich wieder unbezahlbar werden… und wir hätten wahrhaftig einen Grund zu feiern.