Kunst – aus Verletzlichkeit erschaffen

Ich bin vom Leben nur mit einer relativ geringen Portion Radikalität ausgestattet worden. Ich war auch noch nie besonders gut darin, mich meiner Angst zu stellen – und sie in Mut zu wandeln. Vielleicht beeindruckt mich die Performance-Künstlerin Marina Abramovic deshalb so tief. Für sie ist Angst eine Grenze, die es zu überwinden gilt. Ein Tor hinein ins eigene Potenzial, ein Schlüssel in die Freiheit. Und sie lässt sich durch nichts und niemanden davon abhalten, das zu tun, was sie fürchtet.

Ich habe bei meiner Arbeit schon sehr früh herausgefunden, dass ich mich nicht verändern werde, solange ich immer nur Dinge tue, die ich mag. Nur wenn du Dinge machst, vor denen du Angst hast, die du nicht wirklich kennst oder die sogar völliges Neuland für dich sind, nimmst du neue Perspektiven ein. Du erreichst ein anderes Bewusstsein. Genau das ist mein Ziel. (1)
Ihre Kunst ist ein Energie-Dialog – geboren aus Verwundbarkeit. Ein unkontrollierbares Ereignis zwischen ihr und ihrem Publikum. Sie setzt sich gnadenlos der Begegnung aus – ganz gleich, ob sie schmerzhaft, lustvoll, traurig oder ekstatisch ist… Sie macht es für einen Augenblick, für Stunden, Tage, oder wie im MoMA für viele Wochen. Sie nutzt ihren eigenen Körper als Medium, um Bewusstsein zu verändern.

 

Sie ist in diesem Jahr 70 geworden…
Leidenschaft ist offensichtlich keine Fage des Alters.

(1) Du mußt Dinge tun, die Angst machen, TAZ 9.7.2011 http://www.taz.de/!269905

 

Selbstwert wächst durch Resonanz

Wir Menschen sind Beziehungswesen – unsere Neuronen verknüpfen sich im Gehirn erst nach und nach zu unserer Identität. Und zwar durch die Art und Weise, wie die Menschen, die wir lieben, unsere Energie berühren und beeindrucken, auf sie antworten und sie bewegen. Unser Selbstgefühl können wir uns nicht selber geben, es wurzelt in dem, was wir für die anderen sind.

Ich habe in meinem Leben immer wieder erlebt, dass aus liebevollen Beziehungen (geteilte Gefühle) Selbstwert und Vertauen wächst, und aus lieblosen Beziehungen (abgewehrte Gefühle) Selbstzweifel und Unsicherheit entsteht. Beides hinterlässt Spuren in meiner Identität.

Selbstvertrauen braucht Freude

Auf der Körperebene entsteht Selbstvertrauen durch geteilte Freude. Dr. Werner van Haren spricht in diesem Zusammenhang von erlebten Freudezirkel zwischen Mutter und Kind, die während der Schwangerschaft beginnen, und sich im besten Fall in vielfältigen freudvollen Begegnungen in der Familie und im Leben fortsetzen. So wandelt sich der Glanz in den Augen der anderen schließlich in unseren eigenen Wert.

Für Hartmut Rosa ist die Erfahrung von Resonanz die Basis unseres In-der-Welt-Seins (1). Für ihn bedeutet Resonanz nicht Bestätigung, sie ist kein einfaches Echo – eher eine Antwort. Wir brauchen die Erfahrung, dass Menschen uns antwortet und mit uns in Beziehung treten. Diese Antworten können sowohl positiv als auch negativ sein. Auch Reibung ist eine sehr kostbare Form der zwischenmenschlichen Verbundenheit.

Tiefe Resonanzerfahrungen beinhalten immer einen Moment der Transformation: Sie gehen uns unter die Haut, sie verwandeln uns. Wir kommen anders aus ihnen hervor, als wir reingegangen sind. Wenn wir uns nach einem schwierigen Gespräch mit einem Mitarbeiter erleichtert fühlen, dann weil wir uns – mitten in unterschiedlicher Sichtweisen – begegnet sind. Wir haben einander gehört, gefühlt, berührt – uns angesprochen.

Die Löcher im Wert

Das Fundament für unser Selbstbewusstsein bildet sich durch die frühen Resonanzerfahrungen in unserer Kindheit (2), doch wir sind weitaus mehr als das, was auf diese Weise in unser Selbstbild eingeschrieben wurde. Teile unserer Wesensenergie bleiben – auch in den liebevollsten Familien – unangetastet.

Ali Hameed Almaas spricht hier von den Löcher in unserem Wert (3). Das ist ein gutes Bild für das, was wir erleben: Plötzlich fallen wir in ein Loch. Alles, was andere über uns sagen, stößt hier auf Taubheit, und wird mit Abwertung und Rationalisierungen zurückgewiesen. Gar nicht in böser Absicht – hier fehlen uns oft einfach die Rezeptoren zum Nehmen (4).

Unsere Gesellschaft macht es uns leicht, diese Löcher – zumindest für eine Weile – mit Ersatz zu füllen. Dann wird Freude durch Konsum ersetzt, und Wert durch Leistung. Wir können diese Löcher auch mit der Energie anderen Menschen stopfen. Dann vereinnahmen wir ihre Ideen, Gedanken, Gefühle und machen sie uns zu eigen. Doch glücklich werden wir damit nicht. Zugehörigkeit gibt es nicht, solange wir andere benutzen, statt uns von ihnen berühren zu lassen.

Eine Tür ins Lebendige

Im Schatten unseres Selbstbewusstseins liegen unberührte Landschaften. Wir erleben sie als subtiles Gefühl von Fremdsein – mitten unter Menschen. Oder als gefühlte Taubheit mit uns selber – so als wäre wir nicht ganz da. Wir erleben sie als Nichts, als Niemandsland, als Selbstzweifel, als Scham – und erleiden im Kontakt mit anderen unsere eigene Abwesenheit.

Für mich sind diese Löcher im Selbstwert inzwischen sehr wertvoll. Sie sind Türen ins Lebendige, die sich öffnen, wenn sie Wohlwollen und Resonanz erleben. Hinter ihnen schlummern unberührte Aspekte meiner eigenen Energie. Jedesmal wenn ich den Stolz und die Gleichgültigkeit aufgeben, und mich dort von jemandem berühren lasse, öffnet sich die Tür – und das gefühlte Nichts erwacht zum Leben (5). Das zwingt mich manchmal in die Knie – und von dort sieht vieles anders aus. Alte Selbstbilder purzeln vom Thron, dafür zieht Menschlichkeit ein.

Eins steht auf jeden Fall fest: Der Wunsch ganz zu werden beginnt mit der Bereitschaft lebendig zu sein, und meine eigene Verletzlichkeit zu teilen (6).

Wenn ich mich berührbar mache, wandeln sich Leere in Offenheit. Mitten zwischen lauten Gedanken breitet sich Stille aus, und ich spüre den Herzschlag des Lebens. Pur, einfach, unverstellt.
So wächst ein Selbstwert, der mich trägt. Und Werte, die mich führen…

Literatur
(1) Hartmut Rosa (2016), Resonanz. Einen Soziologie der Weltbeziehung
(2) Katharina Ohana (2010), Gestatten Ich. Die Entdeckung des Selbstbewusstseins
(3) Ali Hameed Almaas (1998), Essenzielle Verwirklichkeit
(4) Christiane Windhausen, Birgit-Rita Reifferscheidt (2012), Das flüssige Ich. Führung beginnt mit Selbstführung
(5) Brene Brown (2012), Die Gaben der Unvollkommenheit: Leben aus vollem Herzen
(6) Brene Brown (2013), Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden

Freiheit als Erfahrung der Verwundbarkeit

Ich kann mich noch sehr gut an die Zeiten erinnern, als Getrenntsein das Grundgefühl meines Lebens war. Ganz gleich ob ich in meiner Familie, unter Freunden oder Fremden war, ich habe mich nicht wirklich dazugehörig gefühlt. Für mich, die aus der Fremde kam, war Verbundenheit der Inbegriff von Freiheit und Führung beschrieb die Fähigkeit, immer wieder einzubeziehen, was unverbunden geblieben ist. Unabhängigkeit war für mich ein Fluch, in den ich mich geflüchtet habe, um die Verletzlichkeit, die Nähe und Kontakt mit sich bringen, nicht erleiden zu müssen.

Jetzt bin ich am anderen Ende angekommen. Ich stelle fest, dass ich mich nicht mehr trennen kann. Nicht mehr von meiner eigenen oder unserer gemeinsamen Geschichte. Nicht mehr von Erfahrungen, die ich nicht machen möchte. Nicht mehr von Menschen, die mich kränken und bekämpfen. Nicht mehr von denen, die sich durch Andersartigkeit nicht befruchten lassen (und davon gibt es leider immer noch sehr viele).

Im Zeitalter meiner lang ersehnten inneren Globalisierung zeigt sich Freiheit nun als Erfahrung meiner eigenen Verwundbarkeit. Alles verbindet sich miteinander und es wächst ein inneres Netzwerk, in dem jedes Fühlen und Handeln in seiner Wirkung erfahrbar wird.

Jetzt beginnt Freiheit für mich dort, wo ich auch in konflikthaften Situationen in Kontakt gehen und bleiben können, statt ins Alleinsein zu flüchten. Wo ich mich zumute statt abwende. Wo ich mich aus Liebe riskiere, statt mich auf eine Autonomie zu berufen, die im Grunde aus Resignation geboren ist. Wo ich für ein solidarisches Miteinanders einstehe, statt den Anderen zur Bestätigung alter und längst verstaubter Erfahrungen zu benutzen.

Auf einmal erlebe ich, dass Unabhängigkeit immer eine Illusion war – aufgeblasen von Angst und Stolz. In Wirklichkeit sind wir unwiderruflich verbunden und Freiheit beginnt mit der Erfahrung unserer eigenen Verwundbarkeit.