Ein Jahr nach der Welle

Es ist ein Jahr her, dass uns auf Sri Lanka die große Welle eingeholt hat… Wir sind wieder hier. Ich wollte wissen, wie die Menschen heute leben, die uns damals geholfen haben… Spüren, wie das Wasser sie verändert hat… Am Meer stehen und mich erinnern… Bis wohin hat mich die Welle getragen?

Diese Welle hat jeden mit seinem Schicksal konfrontiert – für mich war sie ein großes Geschenk. Eine Initiation in die Dankbarkeit. Mit ihr hat meine ewige Frage nach dem Sinn endlich aufgehört. Als das Echo der Welle langsam in mir verebbte, wußte ich: Wer das Geschenkte ganz nimmt, kann sich auch ganz geben.

Und Geben beginnt mit Aufgeben – heillose Angewohnheit freiwillig aufgeben. Wir versammeln im Laufe des Lebens viel Erfahrungen in uns. Leider vergessen wir sie mit der Zeit wieder loszulassen – und sie werden zu Schwermut statt zu Flügeln.

So habe ich aufgehört – mit dem Leben zu hadern und mich mit ständigen Selbstzweifeln an alten Wertlosigkeiten festzuhalten. Und ich habe an Kraft, Sichtbarkeit und Sprache gewonnen. Ich hatte mich so lange ins Andere gegeben – es ist eine Wohltat nach Hause zu kommen.

Wie es sich wohl lebt, wenn man sich nie die Frage stellen mußte: Wer bin ich? Und wozu bin ich hier?

Freiheit als Erfahrung der Verwundbarkeit

Ich kann mich noch sehr gut an die Zeiten erinnern, als Getrenntsein das Grundgefühl meines Lebens war. Ganz gleich ob ich in meiner Familie, unter Freunden oder Fremden war, ich habe mich nicht wirklich dazugehörig gefühlt. Für mich, die aus der Fremde kam, war Verbundenheit der Inbegriff von Freiheit und Führung beschrieb die Fähigkeit, immer wieder einzubeziehen, was unverbunden geblieben ist. Unabhängigkeit war für mich ein Fluch, in den ich mich geflüchtet habe, um die Verletzlichkeit, die Nähe und Kontakt mit sich bringen, nicht erleiden zu müssen.

Jetzt bin ich am anderen Ende angekommen. Ich stelle fest, dass ich mich nicht mehr trennen kann. Nicht mehr von meiner eigenen oder unserer gemeinsamen Geschichte. Nicht mehr von Erfahrungen, die ich nicht machen möchte. Nicht mehr von Menschen, die mich kränken und bekämpfen. Nicht mehr von denen, die sich durch Andersartigkeit nicht befruchten lassen (und davon gibt es leider immer noch sehr viele).

Im Zeitalter meiner lang ersehnten inneren Globalisierung zeigt sich Freiheit nun als Erfahrung meiner eigenen Verwundbarkeit. Alles verbindet sich miteinander und es wächst ein inneres Netzwerk, in dem jedes Fühlen und Handeln in seiner Wirkung erfahrbar wird.

Jetzt beginnt Freiheit für mich dort, wo ich auch in konflikthaften Situationen in Kontakt gehen und bleiben können, statt ins Alleinsein zu flüchten. Wo ich mich zumute statt abwende. Wo ich mich aus Liebe riskiere, statt mich auf eine Autonomie zu berufen, die im Grunde aus Resignation geboren ist. Wo ich für ein solidarisches Miteinanders einstehe, statt den Anderen zur Bestätigung alter und längst verstaubter Erfahrungen zu benutzen.

Auf einmal erlebe ich, dass Unabhängigkeit immer eine Illusion war – aufgeblasen von Angst und Stolz. In Wirklichkeit sind wir unwiderruflich verbunden und Freiheit beginnt mit der Erfahrung unserer eigenen Verwundbarkeit.

Im Nehmen geschieht Loslassen

Mit den inneren Löchern im Selbstwert ist das so eine Sache: Überall dort, wo ich in meinem Wesen nicht genommen worden bin, sind resistente Formen der Wertlosigkeit gewachsen. Ganz gleich was ich tue, um mich meines Wertes zu vergewissern – sie schmerzen und bezweifeln.

Ich habe erlebt, dass ich eine Flutwelle brauche, um die Tiefenschichten meines löchrigen Wertes endlich aufzulösen. Jetzt weiß ich, dass große existenzielle Erfahrungen dazu bestimmt sind, tiefe existenzielle Wunden zu erlösen. So hat sich die Welle für mich als unbeschreibliches Geschenk erwiesen. Sie hat mir gezeigt was möglich ist, wenn ich die Welle (in mir) dorthin nehme, wo meine Löcher sind: Größer kann das Zeichen – dass ich gemeint und wichtig bin – nicht sein… warum also nicht aufhören zu hadern? Sie hat mich gelehrt: Wer nicht nimmt, kann sich nicht verändern. Er kann mit den heilsamen Erfahrungen seine Kompensationen ausschmücken – über löchrigem Grund. Doch erst im NEHMEN geschieht Loslassen.

Leider haben wir das NEHMEN in Deutschland so gut wie gar nicht entwickelt. Wir wollen lieber Geben – und es vor allen Dinge alleine schaffen. NEHMEN liegt bei uns im Entwicklungsland der inneren 4. Welt. So sammeln wir Erfahrungen und leben Beziehungen, die wir nicht wirklich NEHMEN… und die uns im GRUND nicht verwandeln können.

Im Augenblick erlebe ich Deutschland als ein Land, das besessen ist von Effektivität und dennoch eine Verschwendung von Erfahrungen praktiziert, die mich zutiefst schockiert.

Wirkliche Effektivität entspringt aus der Kraft des NEHMENS.
Mögen alle, die der Welle begegnet sind, das Geschenk erkennnen, dass sie ihnen mitten ins Herz hinein zugemutet hat.

Die Wucht der Welle

Die Wucht der existenziellen Welle hat mich in die Zeitlosigkeit katapultiert. Ich bin welt-scheu geworden – die banalsten Eindrücke des weltlichen Alltags befremden mich. Ich habe alte Hüllen verloren und fühle mich nackt und pur – mitten im Geschehen.

Irgendwie sind die Welten zusammengefallen und in mich hinein implodiert… oder vielleicht habe ich mich auch einfach in die Welt hinein aufgelöst. Auf jeden Fall gibt es keinen Unterschied mehr: Ob ich meine kleine sichere Welt hier fühle – mit den vielen Menschen, die ihre Liebe in Fürsorge zum Ausdruck bringen – oder ob ich im Fernsehen die Welt und die Not ‚der Anderen dort drüben‘ erlebe… alles ist mir gleich nah. Jedes einzelne menschliche Schicksal der Welle ist meines geworden.

Ich weiß nicht, wie es sich damit leben lässt… oder ob es wieder weg geht… oder ob die Welle gerade darin ihren Sinn findet. Doch ich weiß, dass ich bereits seit einiger Zeit freiwillig geübt habe, dem Nicht-Wissen zu vertrauen – als hätte ich nicht-wissend ‚gewußt‘, dass es Zeit ist sich vorzubereiten.

Geschenke aus Schuld

Die Tageszeitung enthüllt: Jedes 4. Weihnachtsgeschenk wird in diesem Jahr über Schulden finanziert. Beim Schlendern über den Weihnachtsmarkt stelle ich fest, dass – direkt neben dem Glühweinstand – eine Bank schamlose Sofortkredite anbietet. Im kollektiven Wettlauf um den schönen Schein, auf der Flucht vor Wertlosigkeit, Scham und Schuld, boomt das Weihnachtsgeschäft.

Aus Angst unser Gesicht zu verlieren, verschenken wir einfach, was wir nicht haben und was uns nicht gehört, verschulden wir uns – und die Schuldgefühle wachsen. Ich bin fassungslos. Wir verschenken tatsächlich unsere Schuld zum Fest der Liebe, statt uns auf die Gesten der Liebe zu besinnen. Irgendwie haben wir den Zauber des Geben-und-Nehmens vergessen. So als gäbe es Liebe nur noch zum Schnäppchenpreis.

Was wäre, wenn Weihnachten wieder ein Fest der Dankbarkeit würde? Wenn wir mit individuellen und kreativen Zeichen das Geschenk würdigen würden, dass ein anderer Mensch in unserem Leben ist? Wenn wir in stiller Freude oder mit großem Jubel einander einfach mitteilen, wo wir uns gegenseitig im Grunde befruchtet haben…?

Die Liebe dürfte endlich wieder unbezahlbar werden… und wir hätten wahrhaftig einen Grund zu feiern.