Selbstwert können wir uns nicht selber geben

Beim Selbstwert scheint es sich um eine wackelige Angelegenheit zu handeln. Jedes Mal, wenn das Leben uns Veränderung zumutet, beginnt er zu wanken. Wieso haben wir eigentlich das Gefühl, weniger wert zu sein, nur weil wir unsicher sind?

Ich habe immer wieder erlebt, wie Veränderungsprozesse mein eigenes Selbstwertgefühl ins Wanken gebracht haben. Sobald es darum ging, etwas Neues zu üben, kam die Scham fürs Nicht-Können. Es fiel mir schwer, um Hilfe zu bitten – oder freundlich mit meinen eigenen Fehlern zu sein. Auf einmal rutschte mein Wert in den Keller – und riss alles mit, was vorher sicher und stabil war. Unser Selbstwert ist ganz offensichtlich eine unsichere Angelegenheit – zumindest solange wir ihn ausschließlich mit unseren Stärken und Leistungen verknüpfen.

Selbermachen ist nicht dir Lösung

Doch was machen wir, wenn der eigene Selbstwert zu wackeln beginnt? Ich habe mich mal im Netz auf die Suche gemacht, und war ziemlich schockiert. Dort findet man Tipps und Ratschlägen wie diese:

Ein gesundes Selbstwertgefühl kann nur von innen kommen. Für unser Selbstwertgefühl sind wir selber zuständig. Wir entscheiden über unseren Selbstwert, indem wir uns für wertvoll oder minderwertig halten. Wir müssen lernen, uns selbst gut zuzureden, uns selbst den Rücken zu stärken und uns selbst zu ermutigen.

Wenn sie ihr geringes Selbstwertgefühl und damit ihr Selbstvertrauen stärken wollen, müssen sie sich selbst einer Art Gehirnwäsche unterziehen. Sie müssen sich gedanklich umdrehen, ihren Selbstzweifel überwinden und sich ein positives Selbstbild aneignen – ungeachtet ihrer Unvollkommenheiten, Schwäche und Fehler.

Die Imperative heißen also: Steigern Sie ihr Selbstwertgefühl! So als wäre die Verbindung zu unserem Selbst eine mathematische Rechnung, die sich über Willen verbessern lässt. Mit anderen Worten: Machen Sie es selber! So als könnten wir unseren Wert selbst bestimmen und allein aus uns schöpfen.

Ich habe bisher niemanden getroffen, der auf diese Weise gelassener, mutiger, souveräner geworden ist. Meine eigenen Versuche in dieser Richtung sind alle kläglich gescheitert. Kein guter Gedanke konnte die tief im Körper verankerte Unsicherheit auflösen. Aus dem Kampf gegen die eigenen Schwächen ist für mich jedes Mal nur noch mehr Anstrengung gewachsen.

Unser Wert wächst im Wir

Wir können uns unseren Wert nicht selber geben – oder einreden. Er entsteht und wächst aus unseren Beziehungen. Das war schon von Anfang an so. Wir wachsen im Beziehungsraum unserer Familie heran. Sie verleiht uns unseren ersten Wert. Selbstwert entsteht also immer in Verbindung mit Anderen. Daher können sich all die Löcher, die auf diesem Weg entstanden sind, auch nur in Beziehung, Begegnung, Austausch mit anderen auflösen.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich – und zwar vor allem durch das beständige Wohlwollen eines anderen Menschen – begriffen habe, dass mein Selbstwertgefühl vor allem eins braucht: Die Offenheit, meine eigene Verletzlichkeit anzunehmen und mich in den wertvollen Beziehungen meines Lebens damit einzubringen. Ein Wert, der nur auf Stärken steht, bleibt einseitig und steht auf wackeligen Beinen. Erst wenn wir unsere Verletzlichkeit in unsere Beziehungen einbringen, kann sich ein Wert entwickeln, der unabhängig von Leistung und Perfektion ist. Es kann doch nicht sein, dass wir uns weniger wert fühlen, nur weil wir uns unsicher fühlen?

Ein echtes Leitbild für den Umgang mit Verletzlichkeit und Scham ist für mich Brene Brown. Ihre Bücher Die Gaben der Unvollkommenheit und Verletzlichkeit macht stark sind für mich echte Mutmacher.

Wer nicht nimmt wird kraftlos.

Das heißt, es braucht zwei Seiten. Einerseits brauchen wir Menschen, für die es eine Stärke ist, sich in den eigenen Schwächen zu zeigen, die Verletzlichkeit wertschätzen und nicht negativ bewerten. Andererseits entscheiden wir, wie tief uns andere berühren dürfen. Wir wählen, ob wir den stärkenden Spiegelungen der Anderen glauben – oder unseren selbst-abwertenden Glaubenssätzen, die aus längst vergangenen Zeiten stammen. Alles Wesentliche wird uns gegeben. Aber wie tief wir es nehmen, ist unsere eigene Wahl und Selbst-Bestimmung.

Robert Enke wirkt auf dem Schulhof

Diese Woche kam eine Lehrerin zu mir ins Coaching, die sich seit einiger Zeit in unserem Institut supervidieren lässt. Wir sprechen über das, was sich im letzten halben Jahr durch die Supervision verändert hat und holen die Früchte unserer Arbeit ab. In diesem Zusammenhang beschreibt sie, dass sie eine eigene Sprache und Handlungsform für ihre Werte gefunden hat, und erzählt mir dazu folgendes Beispiel:

In ihrer Klasse gibt es ein 13-jähriges Mädchen, dem es in diesem Jahr immer schlechter gegangen sei. Als sie anfing, sich selber zu verletzen, habe sie sich eigenständig entschieden, in eine Klinik zu gehen; sie wußte, dass sie Hilfe braucht.

An dieser Stelle, steht mein Mund vor Staunen weit auf .

Inzwischen ist sie wieder zurück in der Schule und ist gegenüber ihren Mitschülern sehr offen mit ihrer Krankheit und dem Klinikaufenthalt umgegangen.

Mein Mund steht inzwischen sperrangelweit offen – die Selbstkompetenz dieses Mädchens ist wirklich unglaublich.

Vor 3 Wochen sei es auf dem Schulhof dann zu einem Streit zwischen ihr und einem anderne Schüler gekommen. Sie habe gehört, wie der Junge schließlich zu dem Mädchen gesagt hat: ‚Geh doch zurück in die Klappsmühle. Du kriegst dein Leben eh nicht geregelt‘.

Puh – das Leben mutete uns manchmal wirklich schweren Gegenwind zu.

Sie hat den Jungen dann zu einem Gespräch zu sich gerufen. Er sei doch Fussballer und hätte doch sicherlich von Robert Enkes Selbstmord gehört. Dieser tolle Torwart habe sich vor den Zug geworfen, weil er sich nicht getraut hat, darüber zu sprechen, dass er krank ist und Hilfe braucht. Seine Mitschülerin sei wirklich mutig; sie stehe zu ihren Schwächen und kämpfe für ihr Leben. Von Robert Enkes Tod habe sie gelernt, wie wichtig es ist, Menschen, die diesen Mut haben, zu respektieren und zu unterstützen. Sie würde ihm vorschlagen, auf seine Mitschülerin noch einmal zugehen und sich bei ihr entschuldigen…

Der Junge war betroffen und einsichtig. Er konnte spüren, dass seine Lehrerin ihn nicht verurteilte – sondern erinnerte.

Jetzt bekomme ich meinen Mund nicht mehr zu – ich bestaune die herzvolle Konsequenz diese Lehrerin.

Sie hat über eine Beschämung auf dem Schulhof nicht hinweggehört… Sie hat den Jungen dort abgeholt, wo ihm etwas wichtig und wertvoll ist (Fußball)… Sie hat ihm am Selbstmord eines Fußballers deutlich gemacht, wie wichtig ein respektvoller Umgang mit Schwächen ist… Sie hat für diesen Jungen mal kurz die Welt auf den Kopf gestellt, indem sie ihm gezeigt hat, dass es mutig ist, zu seinen Schwächen zu stehen… Sie hat dem Tod von Robert Enkes auf ihrem Schulhof einen Sinn gegeben.

Ich bin mir sicher, dieses Gespräch mit seiner Klassenlehrerin wird der junge Mann nie im Leben vergessen… Ich auch nicht.

Manchmal schmecken die Früchte meiner Arbeit einfach köstlich…