Holzklotz statt Mitgefühl

Gestern ging es bei Aktenzeichen XY um die Jugendlichen, die in Oldenburg einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke geworfen haben. Während des Beitrages habe ich mich immer wieder gefragt: Was mag wohl jetzt in ihnen vorgehen – wo sie wissen, dass eine ganze Nation nach ihnen sucht? Wem können sie sich wohl anvertrauen? Und was wird in ihrem Leben aus diesen Schuldgefühlen wachsen?

Heute lese ich einen Artikel zu diesem Vorfall im Zünder-Blog der Zeit. Darin fordert Carsten Lißmann seine Leser auf, sich in die Situation des Jugendlichen zu versetzen, der den Holzklotz fallen ließ – und der inzwischen weiß, dass seine Gedankenlosigkeit für eine junge Mutter tödlich war und für ihre Familie traumatisch ist. Mir spricht er dabei aus der Seele.

Dann lese ich die Kommentare zu seinem Artikel – und ich bin zutiefst schockiert. Kaum jemand scheint in seinen Artikel eine Befruchtung durch eine neue Sichtweise zu sehen und ihn als eine Inspiration zu verstehen. Stattdessen werden dem Autor Hirnlosigkeit, Narzissmus und Verharmlosung vorgeworfen.

In der Opfer-Täter-Debatte sind wir in Deutschland also immer noch nicht weiter gekommen. Mitgefühl scheint in unserer Gesellschaft nach wie vor gefährlich zu sein.

Vielleicht, weil wir unsere Sympathien für den Täter fürchten – da wir in unserer Geschichte so schlechte Erfahrungen mit unserem eigenen Sympathisantentum gemacht haben… So als würden wir unsere Werte und unsere Konsequenz verlieren, wenn wir die Geschichte mal von einer anderen Seite sehen. Als würde unser Mitgefühl dem Täter seine Verantwortung abnehmen. Als wäre Mitgefühl per se eine Strategie der Verharmlosung.

Mitgefühl setzt immer voraus, dass wir unsere eigenen Schatten kennen und uns in den Anderen hineinversetzen können – ganz gleich ob er Opfer oder Täter ist. Im Fall der sogenannten Holzklotz-Attacke würde das bedeuten, ein Gespür für unsere eigene Gedankenlosigkeit zu bekommen und uns an all die Mal zu erinnern, wo wir erst nach vielen leidvolle Erfahrungen (die Gott sei Dank nicht immer tödlich verlaufen) bereit waren, zu lernen und uns zu verändern…

Vielleicht würde der eine oder andere dann feststellen, dass ihm in seinen jungen Jahren – unter bestimmten Bedingungen – etwas Ähnliches hätte passieren können… Und unser Mitgefühl könnte uns verändern.

Tibet 10: Ich komme aus dem Flussland

Am nächsten Morgen werde ich mit der Erkenntnis wach: Ich gehöre hier oben nicht hin. Ich komme aus dem Flussland…

Darin liegt keine Unzufriedenheit, kein Hader, keine Klage. Es ist ganz einfach eine Einsicht in den Sinn meines eigenen Lebens.

So langsam wächst in mir der Stolz auf das Erbe meiner Vorfahren. Unsere deutsche Geschichte hat uns dazu gezwungen, uns mit der Schuld der Täterschaft auseinanderzusetzen…

Wir haben ein nahezu perfektes Programm zur Auslöschung des Fremden entwickelt… Der Genozid scheint zu einer Phase der Menschheitsentwick-
lung dazu zu gehören. Wir finden ihn überall: in den USA (Indianer), in Australien (Aboriginis), in Europa (Juden), in Asien (z.B. Tibeter)… Mitmenschlichkeit wächst aus unserem Schatten. Erst die eigenen dunklen Seiten lehren uns das Mitgefühl mit den Anderen.

Es gibt nicht viele Völker auf dieser Erde, die ihre eigene Schatten-Geschichte so eingestehen mussten wie wir. So ist aus einer faschistischen Haltung eine kooperative geworden, aus Ausgrenzung das Bemühen um Integration. Aus Kontrolle wird Herzkraft, aus Funktion wird Authentizität. Auch wenn wir noch nicht angekommen sind – wir sind auf dem Weg – langsam, Schritt für Schritt.

Zu Hause angekommen, habe ich zunächst das Gefühl, viel zu langsam für meinen Alltag zu sein… Auch wenn ich inzwischen wieder ganz gelandet bin, etwas ist ‚anders’ geblieben: Ein innerer Abstand zu den Dingen der Welt… Ein gelassener Blick – vom Dach der Welt – auf die Konflikte des Lebens… Ein tiefes Wissen darum, dass jede Erfahrung, die wir machen, ihre Wurzeln in unserer Geschichte hat – sowohl persönlich als auch historisch.

Es gibt immer eine Archäologie des Augenblicks. Und ich erkenne meinen Platz in der Geschichte.

Danke, dass ihr 10 Tage mit mir gegangen seit…

Tibet 8: Der Segen der Täter

Der ehemalige Regierungssitz des Dalai Lama in Tibet war der Potala-Palast – eine Mischung aus Kloster, Tempel und eben – Palast. Er ist an der höchsten Stelle von Lhasa über 13 Ebenen auf einen Berg gebaut.

Die tibetischen Tempel und Klöster haben die Eigenart, so gut wie keine Fenster zu besitzen – sie werden fast ausschließlich von Butterkerzen beleuchtet. In ihnen ist es immer dunkel. In einem Land, in dem viele Menschen nicht lesen konnten, wurden Tradition und Vision über Bilder vermittelt – alle Wände sind daher mit Tangkas und Mandalas in kräftigen Farben bemalt, die allerdings im Dunkeln nur schwer zu erkennen sind. Obwohl wir über 4000 m hoch sind, fühle ich mich, als wäre ich in eine Jahrtausende alte Gruft, tief unter der Erde hinabgestiegen.

Nach einer Stunde im Potala habe ich das Gefühl, an der Geschichte und ihren Geschichten zu ersticken. Ich will nur noch raus. Wo sich Tradition und Religion der Welt verschließen, gibt es keine Entwicklung, keine Quantensprünge. Die Zukunft verschwindet. Ich kann körperlich spüren, was es für den Dalai Lama bedeutet haben muss, 20 Jahre seines Lebens nahezu ausschließlich in diesem Palast gelebt zu haben… Und ich kann auf einmal verstehen, warum er sich in Interviews als ehemaligen Gefangenen des Potala bezeichnet hat…

Als wir schließlich wieder unter der Weite des tibetischen Himmels stehen, stelle ich fest: Wäre ich der Dalai Lama – ich würde den Chinesen jeden Morgen auf Knien danken, dass sie mich in die Welt getrieben haben…

Plötzlich kann ich den Verlauf der Geschichte aus einer anderen Sichtweise sehen: Die Tibeter haben bis zum Einmarsch der Chinesen eine Politik der Abschottung betrieben. Sie hatten kein Interesse am Austausch mit Andersartigkeit, am Teilen ihrer Erfahrungen. Ohne die Annektierung der Chinesen, würden wir den tibetischen Buddhismus nicht kennen. Ohne sie wäre der 14. Dalai Lama wohl eine unbekannte regionale Größe geblieben.

Alles was den jetzigen Dalai Lama auszeichnet, wäre ohne die Chinesen nicht wirksam geworden: Seine Offenheit für andere Sichtweisen… Seine Fähigkeit, Buddhismus und westliche Wissenschaft in einen Dialog zu bringen… Sein Mut, die große globale Politik immer wieder an den Weg des Mitgefühls zu erinnern…

Hätten die Chinesen sich nicht als Täter zur Verfügung gestellt hätten, wäre all das nicht in die Welt gekommen.

Es gibt wohl einen Segen der Täter…

Kollision mit dem Airbag

Eigentlich wollte ich zum Getränkemarkt fahren… Plötzlich bremst ein Auto vor mir… Dann erinnere ich mich nur noch daran, dass sich der Abstand zwischen uns unglaublich schnell verringert. Mein Auto hat einen heftigen Zusammenstoß mit einem roten Wagen… und ich habe eine Kollision mit meinem Airbag. Plötzlich ist alles weich und puderig. Ich habe das Gefühl, für einige Augenblicke ganz und gar in einem weißen Universum zu verschwinden. Nichts bewegt sich, nichts tut weh. Die Welt steht still und ist in Puder gehüllt…

Als ich langsam wieder auf der Oststrasse in Düsseldorf lande, fällt mir als erstes auf, dass sich in dem Auto vor mir niemand bewegt. Als der Mann aussteigt, bebt er am ganzen Leib – er hat mich nicht kommen sehen und ist völlig im Schock. Wir stehen sprachlos zitternd voreinander und warten, bis die Welt wieder an ihren gewohnten Platz gefallen ist. Die ganze Strasse ist voller Unterstützer. Jemand ruft die Polizei, ein anderer bringt uns ein Glas Wasser, eine Frau bietet mir ihr Handy an… Die Polizei und der Rettungswagen sind schneller da, als ich wieder bei mir…

Auf dem gemeinsamen Weg ins Krankenhaus sprechen wir – Täter und Opfer. Er ist Kripobeamter – ich habe ihn in seinem Dienstwagen mitten im Dienst erwischt. Er ist 39 und hat zwei Kinder. Er ist – selbst im Schock – herzlich, freundlich und um mich besorgt. Er ist einfach sympathisch… Er scherzt darüber, dass seine Kollegen nun wohl wochenlang Witze darüber machen werden, dass er sich von einer Psychologin hat anfahren lassen…

Leider ist sein Airbag nicht aufgegangen, weil ich von hinten aufgefahren bin… Die Blutergüsse an meinem Arm hat mein Airbag verursacht. Jedes Mal wenn ich sie sehe, bin ich einfach nur dankbar…

Jetzt versuche ich die Adresse meines Opfers zu erfahren. Doch überall treffe ich auf Wände aus Datenschutz. Ich würde mich so gerne noch einmal entschuldigen – und erkundigen, wie es ihm geht… Ich gebe nicht auf.