26.12.04
Es sollten 21 Tage werden… eine Ayurvedakur im Barberyn Reef Resort auf Sri Lanka. Am zweiten Weihnachtsfeiertag sind wir in unserem Bungalow – direkt am Meer. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass die Welle kommt… Am Anfang denke ich noch: Was für eine Kraft der Vollmond hat… Dann ist das Wasser schon wieder verschwunden. Ich renne hinunter zum Strand: Weit und breit ist kein Meer, kein Strand zu sehen.
Erst in diesem Moment spüre ich, dass dieses Phänomen über den Vollmond und über alles, was mein Leben bisher umfasst hat, weit hinausgeht.
Die Macht kommt in Wellen – jede Woge ist mächtiger als die vorherige. Jedes Mal denken wir: Jetzt ist es vorbei! Und dann fängt alles mit der nächsten Welle erst richtig an. Überall um uns herum sehe ich die singhalesischen Angestellten aus dem Hotel, die alles dafür tun, die Hotelgäste zu bewegen – nur fort aus dem Hotel, weg von der Welle. Sie halten, sie ziehen, sie tragen, sie rufen – unermüdlich und ohne auch nur einen Moment an ihr eigenes Leben zu denken.
Dann verlieren Carina und ich Jochen und wir gehen unter in der mächtigen Welle, die plötzlich aus allen Richtungen kommt. Da greift uns ein Arm – Rumesh hat uns beide erfasst und zerrt uns schreiend zu einer Mauer. Ein Freund von ihm zieht uns die Mauer hoch und beide sorgen dafür, dass wir sicher auf einem Baum landen. Bibbernd warten wir – bis die nächste Welle kommt oder das Wasser langsam wieder zurückweicht.
Dann endlich in der Ferne Jochens Stimme und das Wissen, dass er lebt. Als wir wieder zusammen sind, geht die Welt unter in einer Welle von Dankbarkeit und Glück. Was ist noch wichtig, wenn der geteilte Augenblick Zuflucht gewährt und Halt gibt?
Zwischen den Wellen werden die Pausen größer. Ein Strom von Menschen zieht durch den Dschungel hin zur etwas höher gelegenen Strasse. Immer noch sind alle Angestellten aus unserem Hotel darum bemüht, jeden einzelnen Hotelgast zu sichern, zu versorgen und zu einem buddhistischen Tempel auf einer Anhöhe zu begleiten. Dort treffen sich Tausende von Menschen aus Angst vor der unkontrollierbaren Kraft des Meeres: Furcht, Panik, Hilflosigkeit in Massen… Immer noch sammelt das Management des Hotels uns alle zusammen. Schließlich haben sie für uns eine Unterkunft gefunden – 20 km landeinwärts bei Freunden des Hotels in einer alten Kolonialvilla mitten im Dschungel. Dort kommen wir unter. Hier gibt es ein Transistorradio und die ersten Informationen über das Ausmaß der Katastrophe und über die Angst der Angehörigen in Deutschland, die nicht wissen, ob wir noch leben.
27.12.04
Wie oft in meinem Leben habe ich das Leben verflucht. Nicht gewusst, warum ich überhaupt lebe. Um ein Zeichen gebeten, dass ich wirklich gemeint bin. Nun habe ich erlebt, dass unser Hotel innerhalb von 2 Stunden dem Erdboden gleich gemacht worden ist, aber alle Menschen gerettet wurden… und dass dies alles andere als selbstverständlich ist. Eine ganze Armada von Schutzengeln hat ihre Hände über uns gehalten und ich habe mein lang ersehntes Zeichen bekommen…
Nun stellt sich die Frage: Wie lebt ich damit, dass zwei Menschen ihr Leben geben haben, um uns zu retten? Wie kann ich das zurückgeben, was mir geschenkt worden ist?
Ich leide schon jetzt an der Vergesslichkeit des menschlichen Geistes…
28.12.04
Neben mir ereifern sich zwei Frauen: Eine von ihnen hat nichts gerettet – ausser ihrer Dolce & Gabbana-Brille und sie empört sich über das Management des Hotels, dass sie nicht unverzüglich persönlich aus dem Dschungel gerettet hat. Die andere hat nichts ausser ihrem Louis-Vitton-Kosmetikkoffer mitgenommen und erfragt unter den Überlebenden die Alternativen: Wo gibt es keine Flutkatastrophe? Wo kann man seinen begonnenen Urlaub ungestört fortsetzten? Wohin kann man nun fliegen, um diese Erfahrung gekonnt zu vergesssen und zu ignorieren?
Jeder hat wohl seine eigene Weise, mit dem globalen Trauma des Unvorhersehbaren umzugehen…
Endlich erreicht uns die Nachricht, dass der Flughafen von Columbo noch immer existiert und einsatzbereit ist. Wir brechen auf. Gott sei Dank fliegen wir mit Emirate Airlines – unkompliziert, mitfühlend, großzügig – kein Vergleich mit dem Streit der deutschen Fluglinien um Eitelkeit, Prestige und Inkompetenz.
Für einen Tag kommen wir bei einer singhalesischen Familie in Columbo unter. Sie haben ein Familienmitglied auf den Malediven verloren und dennoch sorgen sie für uns, als wäre wir Teil ihrer Familie. Die Dankbarkeit wächst. Wenn alles Materielle von den Fluten enteignet wird, zählt nur noch die Mit-Menschlichkeit…
29.12.04
Endlich kommen wir in Düsseldorf an. Am Flughafen warten unsere Familien und unsere Freunde. Wir sind in der Sicherheit gelandet und unter Tränen erleben wir, wie vielen Menschen es wichtig ist, dass es uns gibt. Nichts ist so wichtig wie die Liebe zu den Menschen, die uns lieben. Spontan kommen Freunde vorbei, werden Blumensträuße geschickt, haben Menschen Emails verfasst und angerufen.
Wer sich jetzt nicht vom Leben gemeint fühlt, dem ist wirklich nicht zu helfen… Aber wer sich nun zutieftst gemeint fühlt, hat nun seinem Leben einen entsprechenden Sinn zu geben. Ihm ist eine Aufgabe geschenkt worden – einfacher wird es damit nicht…
30.12.04
Den ganzen Tag versuchen wir uns über n-TV ein Bild über die Ausmaße der Naturkatastrophe zu machen. Nach und nach kommen zunehmend schlechte Nachtrichten herein: die Anzahl der Toten nimmt zu, das Ausmaß der Zerstörungen wächst… gleichzeitig wachsen die internationalen Hilfsleistungen. Eine Welle globaler Kooperationen ist ins Rollen gekommen – in einer Dimension, die die Menschheit noch nicht erlebt hat. Erst im Schmerz zeigt sich die Größe des menschlichen Mitgefühls.
In stillen Augenblicken – mittendrin – spüre ich, wie verzweifelt wir nach einer Chance suchen, uns gegenseitig zu unterstützen. Was muss sich das Leben alles einfallen lassen, um uns hilflos zu machen ? Nur weil wir so stolz sind, so unabhängig und ungebunden… Für die Menschen in Sri Lanka ist diese Lebensweise undenkbar und ein großes Unglück. Auch ohne Katastrophe haben wir dafür ihr größtes Mitgefühl…
Ich denke immer wieder an die, die uns das Leben gerettet haben und für die wir nun so gut wie nichts tun können… Wir sind sicher, doch die, die uns gerettet haben, haben nichts. Wie lebt man mit einer Dankbarkeit, die man nicht zurückgeben kann? Wie lebt man mit diesem menschlichen Segen, mit dieser wohlmeinenden Gnade? Wie ist es möglich, diese Erfahrung nicht zu vergessen, sondern jede Aktion und Reaktion des eigenen Lebens damit zu befruchten?
Wir gehören zu denen, die die Flut überlebt haben. Wir müssen mit unserem Überleben leben.
Wir sorgen uns um die, die uns gerettet haben.
Wir versuchen unsere Dankbarkeit zu einen Zeichen der Mitmenschlichkeit werden zu lassen.
Wir sind mit all dem über alle Masse überfordert.
Jetzt geht es darum, unser Bestes zu geben. Ob es uns gelingt, wissen wir nicht…
Möge das Leben uns die Möglichkeit schenken, mit anderen zu teilen, was uns geschenkt worden ist.
Stolz und Eitelkeit sind lange gegangen.
Demut und Dankbarkeit bleiben.