Der ehemalige Regierungssitz des Dalai Lama in Tibet war der Potala-Palast – eine Mischung aus Kloster, Tempel und eben – Palast. Er ist an der höchsten Stelle von Lhasa über 13 Ebenen auf einen Berg gebaut.
Die tibetischen Tempel und Klöster haben die Eigenart, so gut wie keine Fenster zu besitzen – sie werden fast ausschließlich von Butterkerzen beleuchtet. In ihnen ist es immer dunkel. In einem Land, in dem viele Menschen nicht lesen konnten, wurden Tradition und Vision über Bilder vermittelt – alle Wände sind daher mit Tangkas und Mandalas in kräftigen Farben bemalt, die allerdings im Dunkeln nur schwer zu erkennen sind. Obwohl wir über 4000 m hoch sind, fühle ich mich, als wäre ich in eine Jahrtausende alte Gruft, tief unter der Erde hinabgestiegen.
Nach einer Stunde im Potala habe ich das Gefühl, an der Geschichte und ihren Geschichten zu ersticken. Ich will nur noch raus. Wo sich Tradition und Religion der Welt verschließen, gibt es keine Entwicklung, keine Quantensprünge. Die Zukunft verschwindet. Ich kann körperlich spüren, was es für den Dalai Lama bedeutet haben muss, 20 Jahre seines Lebens nahezu ausschließlich in diesem Palast gelebt zu haben… Und ich kann auf einmal verstehen, warum er sich in Interviews als ehemaligen Gefangenen des Potala bezeichnet hat…
Als wir schließlich wieder unter der Weite des tibetischen Himmels stehen, stelle ich fest: Wäre ich der Dalai Lama – ich würde den Chinesen jeden Morgen auf Knien danken, dass sie mich in die Welt getrieben haben…
Plötzlich kann ich den Verlauf der Geschichte aus einer anderen Sichtweise sehen: Die Tibeter haben bis zum Einmarsch der Chinesen eine Politik der Abschottung betrieben. Sie hatten kein Interesse am Austausch mit Andersartigkeit, am Teilen ihrer Erfahrungen. Ohne die Annektierung der Chinesen, würden wir den tibetischen Buddhismus nicht kennen. Ohne sie wäre der 14. Dalai Lama wohl eine unbekannte regionale Größe geblieben.
Alles was den jetzigen Dalai Lama auszeichnet, wäre ohne die Chinesen nicht wirksam geworden: Seine Offenheit für andere Sichtweisen… Seine Fähigkeit, Buddhismus und westliche Wissenschaft in einen Dialog zu bringen… Sein Mut, die große globale Politik immer wieder an den Weg des Mitgefühls zu erinnern…
Hätten die Chinesen sich nicht als Täter zur Verfügung gestellt hätten, wäre all das nicht in die Welt gekommen.
Es gibt wohl einen Segen der Täter…