Was uns unter die Haut geht

Manchmal brauchen wir eine Pause, um wieder zur Besinnung zu kommen. So war ich zum Jahreswechsel auf Sri Lanka: Drei Wochen Ayurvedakur – auf den Spuren unserer Tsunami-Erfahrungen von 2004

Dort bin ich plötzlich wieder in mir aufgewacht – und zu Sinnen gekommen. Ich war zutiefst erschüttert darüber, wie weit ich mich von meinem Körper und meinen Sinnen entfernt hatte. Ich hatte mich im Taumel der Wichtigkeiten verloren und war nur noch auf Autopilot unterwegs. Fassungslos erkannte ich das Ausmaß des Vergessens, dass mit meinem Funktionieren einherging… Und dabei hatte ich mir doch fest vorgenommen, immer wieder im Chaos innezuhalten, mich mit meinem Körper zu verbinden, ins Zellbewusstsein zu lauschen und den Zauber des Lebendigseins zu geniessen.

Plötzlich fällt mir der Kellner aus der Lounge in Frankfurt ein, der sich auf seinen Arm geschrieben hat: Gott gebe mir die Kraft, Dinge hinzunehmen, dich ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Als ich ihn um ein Foto bitte, erzählt er mir, dass er nach einem Weg gesucht hat, sich selber nicht mehr zu vergessen. So hat er sich dieses Gebet auf den Arm tätowiert. Jedesmal, wenn er nun einen Gast die Hand reicht, erinnert er sich…

Ein paar Tage später treffe ich Karin. Sie hat ein ungewöhnliches Tattoo auf dem Rücken und wir kommen ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass sie nie vergessen möchte, dass Jesus in ihrem Leben Wege findet, denen sie vertrauen kann. ‚Ich vertrau auf Jesus‘ steht daher auf ihrem Schulterblättern. Nach einigen Tagen sehr ich neben mir einen Mann mit ’silent‘ auf dem Rücken. Als ich ihn frage, was ihn bewegt hat, sich dieses Wort unter die Haut zu schreiben, sagt er: ‚Das ist mein größter Traum. So weiß ich, dass ich ihn immer im Rücken habe‘. Wir sind scheinbar alle vergesslich und suchen nach Wegen, uns zu erinnern.

Einsicht und Achtsamkeit fallen uns nicht einfach so zu. Wir müssen sie wohl immer wieder aus dem Sog des Alltags herauslösen und bewahren. Wachheit braucht Aufmerksamkeit – und Erinnerung…

Mir war es ein Rätsel, warum sich jemand tätowieren lässt. Allein die Vorstellung, dass Nadeln unter meine Haut dringen, schmerzt mich. Ich denke gleich an Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie, in dem eine Machine dem Gefangenen sein Urteil so lange in die Haut einschreibt, bis er stirb.

Biologisch sind wir erstmal nur für ein durchschnittliches Leben ausgestattet. Wenn wir uns darüber hinaus entwicklen wollen, braucht es Bewusstheit, Selbst-Liebe und die Selbst-Erinnerung an gewonnene Einsichten und Entscheidungen.

Zum ersten Mal kann ich nachvollziehen, warum manche Menschen sich tätowieren lassen. Jeder von uns braucht Brücken ins Erinnern. Sie nutzen dazu ihr Tattoo. Ich vertraue auf die Erinnerungskraft meiner Freunde und baue mir Alltagsrituale. Aber der Wunsch ist der gleich: Wir wollen nicht vergessen.

 

7 Kommentare

  1. Ein schönes Bild schaffen diese Worte, was die Motivation sein kann, sich ein Tattoo stechen zu lassen.
    Auch wenn mir die Erzählung von Kafka nicht bekannt ist, finde ich den Vergleich mit dem Gefangenen, seiner Folter und einem realen Tattoo nicht befremdlich. Denn den eigenen Körper als Lebensgeschichte zu sehen, sich in seinem Leben deshalb einmal, mehrmals oder auch mehr als mehrmals für ein bestimmtes Tattoo zu entscheiden, endet mit dem Tod. Irgendwann stirbt mein Körper und damit jedes „Urteil“, das mein Körper bewusst in eben diesem Leben durchlebt hat. Jedes „Urteil“ in meinem Leben endet doch auch auf eine Art mit dem Tod, damit Platz für neues Leben da ist und es sich (weiter-) entwickeln kann.

  2. Ein schönes Bild schaffen diese Worte, was die Motivation sein kann, sich ein Tattoo stechen zu lassen.
    Auch wenn mir die Erzählung von Kafka nicht bekannt ist, finde ich den Vergleich mit dem Gefangenen, seiner Folter und einem realen Tattoo nicht befremdlich. Denn den eigenen Körper als Lebensgeschichte zu sehen, sich in seinem Leben deshalb einmal, mehrmals oder auch mehr als mehrmals für ein bestimmtes Tattoo zu entscheiden, endet mit dem Tod. Irgendwann stirbt mein Körper und damit jedes „Urteil“, das mein Körper bewusst in eben diesem Leben durchlebt hat.
    Jedes „Urteil“ in meinem Leben endet doch auch auf eine Art mit dem Tod, damit Platz für neues Leben da ist und es sich (weiter-) entwickeln kann.

  3. Oh doppelt hält wohl besser… 🙂

  4. Ich finde Wiederholungen wunderbar. Sie lassen das Gelesene fühlbar werden und erzeugen Aufmerksamkeit. Und sie helfen mir dabei, einmal, mehrmals und auch mehr als mehrmals zu lesen… Deine Worte über das Urteil klingen jetzt in mir nach. Du hast Recht: Jedes Urteil, dass ich fälle – über mich oder einen Anderen – verurteilt zum Tode (denn es glaubt nicht an Entwicklung). Dort wo es keine Urteile gibt, können wir aufwachen – und uns an das eigene ungelebte Leben erinnern. Danke für die Erinnerung.

  5. Eine schöne Verbindung, die mich Tatoos anders betrachten lässt. Das Beschreiben Deines Vergessens und Funktionierens beeindruckt und erinnert mich. Danke Freundin!

  6. […] mit uns selber ehrlich werden, beginnt ein schmerzlicher Prozess der Enttarnung. Dann fängt die Wahrheit an zu brennen – mitten in uns. Und dieses Feuer ist nicht mehr so einfach zu […]

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